• G
  • e
  • n
  • k
  • i

Hochsensibel und extrovertiert: Wie geht das?

Text: Julia Felicitas Allmann
Fotos: © Paul Hesse / www.lichtbildwirkung.at
21.07.2023
extrovertierte Hochsensible_Coach Julia Hesse
Wenn wir an hochsensible Menschen denken, haben wir oft stille Personen im Kopf, die sich gerne zurückziehen und ihre Kraft daraus ziehen, für sich zu sein. Doch es gibt auch diejenigen, die hochsensibel und gleichzeitig extrovertiert sind. Was die besondere Kombination dieser Merkmale ausmacht und wie du als extrovertierte Hochsensible am besten auf dich achtest, erklärt Coach Julia Hesse in diesem Artikel.

Beginnen wir zunächst mit der Definition: „Das Konzept der Extraversion und Introversion geht auf C.G. Jung zurück und beschreibt zwei Charaktermerkmale“, erklärt Julia. „Extravertiert – wie es wissenschaftlich genau genommen heißt, umgangssprachlich hat sich jedoch der Begriff ‚extrovertiert‘ durchgesetzt – bedeutet „nach außen gerichtet“, introvertiert „nach innen gerichtet. Das ist bezogen auf Wahrnehmung, Intuition, Denken und Fühlen.“

Das bedeutet, dass extrovertierte Menschen ihre Energie von der Außenwelt ziehen, also aus dem Kontakt und dem Austausch mit anderen Menschen. Introvertierte tanken hingegen auf, wenn sie allein sind. „Menschen sind allerdings nicht entweder extrovertiert oder introvertiert, sondern lassen sich vielmehr auf einer Skala von „sehr introvertiert“ bis „sehr extrovertiert“ einordnen“, erklärt Julia. Wichtig zu wissen: Jede von uns trägt bis zu einem gewissen Grad beide Ausprägungen in sich – diese Anteile können Julia zufolge je nach Rolle, Situation oder Stimmung variieren. „In den allermeisten Fällen ist jedoch eine Disposition ausgeprägter und im Alltag deutlicher wahrnehmbar.“

Was extrovertierte Menschen ausmacht

Wie bereits erklärt, profitieren Extrovertierte vom Kontakt mit der Umwelt. Sie fühlen sich energiegeladen, wenn sie unter Menschen sind – zum Beispiel auf einem großen Event oder einer Party. „Wenn sie alleine sind, entladen sie diese Energie quasi wieder und möchten dann wieder Menschen treffen, um sich energievoll zu fühlen“, sagt Julia. „Bei introvertierten hingegen ist es genau umgekehrt.“

Die meisten extrovertierten Menschen sind kommunikativ und enthusiastisch, sie gehen offen auf andere Menschen zu, sind kontaktfreudig, abenteuerlustig und spontan. „Sie bringen sich aktiv in Gruppen ein, sind ausdrucksstark, risikofreudiger und teilen gerne ihre Gefühle und Gedanken mit anderen – um nur ein paar Persönlichkeitsmerkmale zu nennen“, so Julia.

Wenn Extraversion und Hochsensibilität zusammenkommen

Über Hochsensibilität, Introversion und die Unterschiede haben wir bereits in diesem Genki-Artikel gesprochen. Wie verhält es sich nun, wenn Meschen gleichzeitig extrovertiert und hochsensibel sind? „Der scheinbare Widerspruch zwischen Hochsensibilität und Extraversion hängt sicherlich damit zusammen, dass sich das Klischee von der introvertierten, ruhigen und zurückgezogenen hochsensiblen Person (HSP) hartnäckig hält“, sagt Julia, die sich als Life-Coach auf die Begleitung von Hochsensiblen spezialisiert hat. „Tatsächlich sind laut Dr. Elaine Aron, der Pionierin der Hochsensibilitätsforschung, zwar etwa 70 Prozent der Hochsensiblen introvertiert, allerdings zählen auch rund 30 Prozent zu den Extrovertierten.“

Und Julia weiß, wovon sie spricht: „Da ich mich selbst zu den extrovertierten Hochsensiblen zähle, kann ich auch aus eigener Erfahrung bestätigen, dass es diese Ausprägung gibt. Es ist also kein Widerspruch, gleichzeitig extrovertiert und hochsensibel zu sein.“ So sorge der extrovertierte Anteil in einer Person dafür, dass sie neue Reize, Menschen, Orte, Abenteuer und Herausforderungen suche, während der hochsensible Anteil für Sicherheit und Ruhe zuständig sei.

„Dies kann sich beispielsweise so äußern, dass man (anders als introvertierte Personen) zwar gerne und mit Begeisterung unter Leute oder auf Veranstaltungen geht, dann aber deutlich früher als Normalsensible heimgehen will, weil das „Fass an Reizen“ einfach früher voll ist.“ Julia erlebt diesen Balanceakt zwischen Überforderung und Unterforderung häufig bei ihren Coachees. „Hier ist es dann sehr wichtig, schrittweise gemeinsam eine individuell passende Strategie herauszuarbeiten.“

Herausforderungen für extrovertierte Hochsensible

Worauf sollten Menschen also achten, die sich selbst als extrovertiert und hochsensibel wahrnehmen? „Während hochsensible Introvertierte oft Gefahr laufen, zu zurückgezogen und isoliert zu leben, können hochsensible Extrovertierte leicht von den vielen sozialen Aktivitäten überwältigt werden“, sagt Julia. Sie genießen das Zusammensein mit anderen Menschen und Aktivitäten in der Gruppe – brauchen im Nachhinein aber mehr Zeit allein, um sich davon zu erholen.

Denn wie alle Hochsensiblen empfinden sie tiefer sowie intensiver, sie nehmen mehr wahr als normalsensible Menschen. „Das führt zu dem Dilemma, dass extrovertierte Hochsensible zwar mehr Begegnungen und Interaktionen mit anderen für ein erfülltes Leben brauchen, sie aber gleichzeitig zu viele Eindrücke leichter und schneller erschöpfen“, sagt Julia. „Extrovertierte HSP ermüden andererseits aber auch schneller oder werden unruhig, wenn sie zu lange alleine sind und ihre Gedanken nicht mit jemandem besprechen können.“

Was noch hinzukommt: Extrovertierten Hochsensiblen geht es Julia zufolge nicht einfach nur darum, unter Menschen zu sein – sie wollen unter den richtigen Menschen sein. Sie wollen ihren Tag nicht einfach nur irgendwie füllen, sondern sinnvollen Tätigkeiten nachgehen. „Hochsensible – egal, ob introvertiert oder extrovertiert – sind nämlich sehr wählerisch und anspruchsvoll, auch bei der Freizeitgestaltung“, sagt Julia. „Eine der größten Herausforderungen liegt daher sicherlich darin, den Ausgleich zwischen Anregung und Entspannung, zwischen Socialising und Alleinzeit, zwischen ausreichend Reizen und Überreizung gut zu schaffen.“

Strategien für extrovertierte Hochsensible

Wie schaffst du es also, als Person, die extrovertiert und hochsensibel ist, gut durch den Alltag zu kommen? „Die besondere Herausforderung für extrovertierte HSP besteht darin, „vor allem nährende Kontakte zu pflegen, die ihr Bedürfnis nach Tiefgründigkeit und ‚echten‘ Austausch befriedigen“, so Julia. Ein weiterer Tipp: Da sich extrovertierte Hochsensible schneller ablenken und leichter von äußeren Reizen begeistern lassen, müssen sie üben, den Fokus zu halten und Prioritäten zu setzen. Gelingt dir das, näherst du dich einer Balance zwischen Aktivität zum Auftanken und Ruhe zum Verarbeiten an.

Pausen und Alleinzeit sind also wichtig. „Es geht immer auch darum, die eigenen Grenzen zu erkennen, anzunehmen und zu wahren“, rät Julia. „Anstatt sich also zu zwingen, „durchzuhalten“, ist es besser, eine kurze Pause einzulegen, um dafür anschließend das Ereignis voll und ganz genießen zu können. Hochsensible haben nichts davon, „mehr“ zu machen. Ich empfehle daher immer „Qualität vor Quantität“.“

Hilfreich ist es natürlich im ersten Schritt, wenn du herausgefunden hast und auch annimmst, dass du diese beiden unterschiedlichen Anteile in dir trägst – und du dafür sorgst, dass beide abwechselnd befriedigt werden. „Dies hat viel mit Selbstfürsorge und Achtsamkeit zu tun“, sagt Julia. „Nämlich früh zu erkennen, wann die Batterien wieder durch soziale Aktivitäten aufgeladen werden müssen und umgekehrt, wann es Zeit ist, sich zurückzuziehen und die aufgenommenen Reize zu verarbeiten.“

Vorteile von extrovertierten Hochsensiblen

Ganz wichtig: Sieh es nicht als problematische Besonderheit an, wenn du zu den extrovertierten Hochsensiblen zählst – denn diese Kombination trägt besonderes Potenzial in sich. „Extrovertierte HSP sind oft sehr kreativ, haben viele Ideen und sind schnell in der Umsetzung. Sie denken oft nicht ganz so lange und viel nach, sondern leben mehr nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip“, sagt Julia.

„Extrovertierte Hochsensible haben außerdem eine starke Impulskraft, sind spontan und begeisterungsfähig und stecken dadurch oft auch andere mit ihrem Enthusiasmus an. Sie sind oft gute Motivator:innen.“ Auch für das Umfeld ist das Zusammensein mit extrovertierten Hochsensible oft besonders angenehm: „Der extrovertierte Anteil hilft ihnen beispielsweise, schnell mit fremden Menschen in Kontakt zu kommen, der hochsensible Anteil rasch eine Tiefe in Gesprächen herzustellen“, sagt Julia. „Sie sind daher oft sehr inspirierende Gesprächspartner:innen.“

High Sensation Seeker – schon mal gehört?

Schauen wir uns zum Abschluss noch einen Sonderfall unter den Hochsensiblen an, der bei diesem Thema erwähnt werden sollte: Die High Sensation Seekers, kurz HSS. „HSS sind schneller gelangweilt, aktiver und brauchen mehr Reize als die durchschnittliche HSP. Während „nur“ HSP beispielsweise Routine und Ruhe mögen, bevorzugen HSS die Abwechslung und brauchen häufig neuen Input, um sich wohl zu fühlen“, erklärt Julia. „Viele HSS fragen sich daher, ob sie überhaupt hochsensibel sind, da gängige Beschreibungen oft auf sie nicht zutreffen.“

Viele extrovertierte Hochsensible zählen zu dieser Gruppe – und das macht es ihnen oft anfangs schwer, ihre Hochsensibilität zu erkennen. „Extrovertierte Hochsensible und High Sensation Seeker wissen oft lange nichts von ihrer Sensitivität und fragen sich nur, warum die meisten anderen kontaktfreudigen Menschen um sie herum nach intensiven Begegnungen viel weniger erschöpft zu sein scheinen als sie selbst“, sagt Julia. Oft denken sie, sie müssten sich einfach nur zusammenreißen, um es genauso zu schaffen wie alle anderen.

„Folgende Aussage beschreibt sehr treffend, wie sich das Leben von vielen extrovertierten HSP und HSS anfühlt“, sagt Julia. „Es ist, wie wenn man mit einem Fuß am Gaspedal und mit dem anderen auf der Bremse stehen würde“. Es geht also um die ständige Balance zwischen positiver Erregung und der Vermeidung von Überreizung – und je besser du dich kennst und auf dich achtest, desto besser kannst du diese Herausforderung meistern und von deinen extrovertierten und hochsensiblen Anteilen profitieren.

Hochsensibel und extrovertiert: Wie geht das?
Julia ist Coach für Hochsensible und lebt in Wien. Sie ist diplomierte Lebens- und Sozialberaterin mit Schwerpunkt auf Hochsensibilität und hat sich auch in der Diplomarbeit dem Thema Hochsensibilität gewidmet. Julia hilft dabei, Hochsensibilität als Stärke zu leben und People Pleasing zu beenden. Alle Informationen zu Julia findest du auf ihrer Website, viele Impulse, Einblicke und Inspirationen bekommst du auch über ihren Instagram-Account authentisch.ich.