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Hochsensibel: Alles ist so intensiv

Text: Julia Felicitas Allmann
Fotos: Vanilla Mind
26.05.2021
Melina Royer, Vanilla Mind
Wenn Menschen von sich selbst behaupten, sie seien hochsensibel, reagiert ihr Umfeld oft mit fragenden Blicken. Gibt es so etwas wirklich? Ist das eine Diagnose? Melina Royer ist Expertin fürs Thema und erklärt, was hinter dem Begriff steckt und wie besonders sensible Menschen am besten durch den Alltag kommen.

„Sei doch nicht so zimperlich!“ Oder: „Du solltest dir wirklich mal ein dickeres Fell zulegen…“ Solche Sätze hören sensible Personen häufig, dabei sind sie überhaupt nicht hilfreich. Denn es gibt Personen, die einfach empfindlicher auf Reize, Stimmungen und Menschenmengen reagieren.

„Ich habe schon in meinen Teenagerjahren stark gefühlt, dass ich einfach etwas sensibler bin beziehungsweise länger über Sachen nachgrüble oder auch Geräusche viel intensiver empfinde als andere“, sagt Melina Royer, die mit Büchern, ihrem Blog „Vanilla Mind“, dem Podcast „Still und Stark“ und einem Online-Kurs Menschen begleitet, die ähnlich empfinden wie sie. „Ich habe im Alltag zum Beispiel erlebt, dass ich jemanden fragte, ob er sich auch so schlecht konzentrieren könne bei der Geräuschkulisse – und derjenige hörte eigentlich gar nichts. In solchen Situationen wird klar, dass die Reizverarbeitung offenbar unterschiedlich funktioniert.“

„Das ist nicht falsch, das ist nur anders“

Melina hat sich nach dieser Erkenntnis in psychologische Literatur zum Thema eingelesen und verstanden: Es gibt Unterschiede auf der persönlichen Sensibilitätsskala und das ist auch völlig okay so. „Früher habe ich es eher als Makel gesehen, habe mich selbst als Sensibelchen bezeichnet und andere sagten oft, ich sei so empfindlich – so wollte ich nicht sein.“ Ein paar Jahre dauerte dieser Zustand an, dann konnte Melina sich und ihre Sensibilität akzeptieren. „Ich habe gesehen: Das ist nicht falsch, das ist einfach nur anders. Und ich muss lernen, mit meinen Stärken zu arbeiten.“

Inzwischen hat Melina es zu ihrer Mission gemacht, leisen und empathischen Menschen zu helfen, mit ihrer authentischen Art zu begeistern – und damit ist sie nicht allein. Es gibt viele Blogs, Coachings oder Bücher zum Thema. Was auffällt: Der Begriff Hochsensibilität taucht dabei immer seltener auf, stattdessen ist von Sensibilität in verschiedenen Ausprägungen die Rede. Melina bestätigt diesen Eindruck. „Das finde ich auch ganz gut so“, sagt sie. „Die Forschung zum Thema Hochsensibilität ist noch relativ frisch, es gibt noch gar nicht so viele belastbare Daten, auf die man sich stützen kann, häufig wird es mit Schüchternheit und Introversion vermischt.“

Schüchtern, sensibel, introvertiert?

Wo liegen die Unterschiede zwischen diesen Begriffen und Persönlichkeitsmerkmalen? Bei Schüchternheit handelt es sich kurz gesagt um eine soziale Angst, die antrainiert ist. Schüchterne Menschen befürchten oft, andere könnten etwas Schlechtes über sie denken und halten sich deshalb zurück.

Ob man introvertiert ist, das gilt als angeborenes Merkmal der Persönlichkeit. Introvertierte brauchen weniger Reize und Stimulationen aus der Umwelt, sie tanken am besten Energie, wenn sie alleine sind und sich zurückziehen. (Ob du introvertiert, extrovertiert oder beides bist, kannst du in einem Test auf Melinas Website herausfinden.)

Zurück zur Sensibilität: Statt von Hochsensibilität zu sprechen, stellt sich Melina lieber eine Skala vor, auf wir uns alle bewegen – manche eher auf einem höheren Level der Sensibilität, andere auf einem niedrigeren. „Außerdem finde ich, dass Hochsensibilität ein Label ist, das man sich selbst aufdrückt“, sagt Melina. „Man stellt sich selbst als hochsensibel dar und grenzt sich dadurch von Anderen ab. Das finde ich persönlich nicht so schön und auch nicht nötig.“

Forschung zu Hochsensibilität

Auch wenn die Forschung noch recht jung ist: Es gibt Wissenschaftler:innen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Der wissenschaftlichen Definition zufolge nehmen hochsensible Personen „aufgrund ihrer neurologischen Disposition Reize intensiver wahr und verarbeiten diese möglicherweise auch anders“. So ist es bei der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg zu lesen. Etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung seien davon betroffen, so die Psycholog:innen.

1997 wurde eine grundlegende Arbeit zum Thema verfasst, auf die sich die heutige Forschung bezieht. Demnach ist Hochsensibilität ein angeborenes Temperamentsmerkmal und nichts, was man sich im Laufe der Zeit aneignet. Man geht sogar davon aus, dass es bestimmte Strukturen im Gehirn gibt, die dazu führen, dass Reize intensiver wahrgenommen werden.

Gibt es eine klare Diagnose?

Wer sich in all den Beschreibungen wiederfindet, gehört vielleicht zur Gruppe der besonders sensiblen Menschen. Um es herauszufinden, gibt es auch Fragebögen im Internet. Die Expert:innen vom „Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität“ empfehlen aber, den Gedanken, selbst hochsensibel zu sein, eine Weile „mit sich herumzutragen“ und zu beobachten, ob sich dadurch das Lebensgefühl bessert. Denn man kann es nur selbst herausfinden oder einschätzen – es gibt keinen medizinischen oder psychologischen Test, der ein klares Ja oder Nein ans Licht bringt. Auch Melina hat diese Frage mit sich selbst ausgemacht, und sie sagt, dass sie nach der gängigen Definition vermutlich als hochsensibel durchgeht.

„Aber ich bezeichne mich einfach lieber als sensiblen Menschen. Mir ist nicht wichtig, dass explizit „hoch“ davorsteht. Viel wichtiger finde ich, dass man lernt zu verstehen, wer man ist und wie man diese Eigenschaften nutzen kann, um Verbindungen zu anderen Menschen zu schaffen.“

Erst die Erkenntnis – und dann?

Was macht man also, wenn einem klar wird, dass man offenbar Reize sehr intensiv wahrnimmt – egal, wie man es herausfindet und mit welchem Begriff man es definiert? „Für mich persönlich hat sich mein Selbstbild etwas verändert“, erinnert sich Melina. „Mir begegnen auch jetzt durch meine Arbeit so viele Menschen, die sehr sensibel sind und da merke ich: Es ist total okay, so zu sein. Ich bin kein einsames Alien. Das ist für die Selbstakzeptanz sehr wichtig. Es ist ein ganz normales Charaktermerkmal und nur weil man in seinem eigenen Umfeld nicht so viele Menschen hat, die so sind, heißt es nicht, dass es nicht viele von ihnen gibt.“

Vor allem reden natürlich auch nicht alle Menschen darüber – oder sie wissen von sich selbst noch gar nicht, dass sie etwas anders ticken und empfinden, dass sie sensibler sind als ihre Freunde oder Familienmitglieder. Denn man sieht es uns nicht sofort an, es gibt keine objektive Skala, auf der wir uns ganz einfach vergleichen können.

Dafür ist einiges an Selbstreflektion und Selbsterkenntnis erforderlich. Oder auch Gespräche mit (oder Artikel über) Menschen, die sich selbst schon auf diese Art kennengelernt und mit sich auseinandergesetzt haben. „In dem Moment, in dem man ein bisschen seine Fühler ausstreckt und mal aus seinem Kopf und seiner Gedankenwelt herauskommt, merkt man, man ist nicht allein damit“, sagt Melina.

Wie der sensible Alltag aussieht

Wie sieht es nun im Alltag aus, wenn man hochsensibel ist? Was unterscheidet sich von dem Erleben der Mitmenschen? „Wenn man relativ sensibel ist, kann man sehr viele Eindrücke aufnehmen und sehr viele Reize verarbeiten“, erklärt Melina. Da das natürlich viel Energie kostet, ist es für sensible Menschen sehr wichtig, ihre Abgrenzung zu schärfen.“ Das bedeutet: Erkennen, wann es genug oder zu viel ist. Pausen machen. Sich selbst auch mal Ruhe zugestehen. „Dadurch, dass man eine so intensive Reizverarbeitung hat, muss man lernen, mit den Energien zu haushalten und sich abzugrenzen.“

Melina Royer, Vanilla Mind

Das klingt natürlich einfacher, als es oft ist. Wenn man Einladungen erhält und viele Leute treffen soll, aber eigentlich Zeit für sich bräuchte. Wenn Ruhe nötig ist, aber wichtige Termine anstehen. Wenn alle Freunde laute Musik im Hintergrund hören wollen, es für einen selbst aber alles viel zu intensiv ist. „Diese Abgrenzung ist ein individueller Lernprozess, in dem ich auch ständig bin“, sagt Melina. „Manchmal klappt es gut, aber ich habe auch Phasen, in denen ich sehr viele Dinge zusage und dann merke, wie reizüberflutet ich bin. Dass ich kaum Zeit zum Auftanken habe. Das sind immer Punkte, an denen man es erkennt und dann nachjustieren kann.“

So kannst du Überreizung vermeiden

Wenn du dich jetzt in Melinas Beschreibungen wiedererkennst oder schon für dich selbst weißt, dass du besonders sensibel bist, dann können dir diese Tipps von Melina helfen, gut durch den Alltag zu kommen und dabei Überreizung vorzubeugen:

  • Fernseher aus:

    Auch wenn vielleicht nur eine Doku im Hintergrund läuft oder du eine Serie zum Ablenken schaust: All die Bilder und Geräusche sind immer neuer Input für den Geist. Sie müssen verarbeitet werden und verbrauchen so Energie.

  • Spazieren hilft:

    Wann immer sensible Menschen eine halbe Stunde vor die Tür gehen können, sollten sie die Chance nutzen. Wer in die Natur geht, schaltet unnatürliche Töne und zu viele künstliche Reize aus.

  • Body Scans:

    Solche Übungen findest du zum Beispiel bei Youtube, sie leiten dich an, die Aufmerksamkeit komplett in den Körper zu bringen und die vielen externen Eindrücke einmal außen vor zu lassen.

  • Atemübungen:

    Gut merken kann man sich die Übung 4711, die wie Kölnisch Wasser klingt. So funktioniert es: Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden ausatmen – und alles elf Mal wiederholen. Das entschleunigt, kann beim Einschlafen oder auch vor stressigen Terminen helfen.

Sensibel und trotzdem in der Öffentlichkeit

Was aus der Geschichte von Melina und vielen anderen (Hoch-)sensiblen klar wird: Diese Charaktereigenschaften sind kein Grund, nur kleine Projekte im stillen Arbeitszimmer durchzuziehen, nicht mit den eigenen Ideen rauszugehen und sogar in der Öffentlichkeit zu stehen. Melina selbst gibt Interviews in großen Magazinen, hat eine Community mit ihrem Blog und bei Instagram aufgebaut, ist auch als Speakerin zum Thema unterwegs.

„Ich muss dafür gar nicht so stark über meinen Schatten springen“, sagt Melina. „Natürlich ist es mir lieber, wenn ich nicht so viel auf großen Bühnen stehe, weil ich das Gewusel auf Messen und großen Events sehr anstrengend finde. Das hat mit Sensibilität zu tun, aber das sind ja auch Dinge, die ich nicht zwingend machen muss.“

Doch es ist möglich, all das auch sehr sensible Menschen tun können – oder sie finden ihre eigenen Wege, um die eigene Message nach außen zu bringen. „Ich habe mich für Möglichkeiten und Strategien entschieden, mit denen ich eine gewisse Sichtbarkeit habe“, sagt Melina. „Ab und zu bin ich auch mal Speakerin, unterhalte mich mit vielen Menschen, bin in großen Mengen unterwegs – aber das ist nichts, was ich regelmäßig mache, weil mich die Reizüberflutung dann ein bisschen hart trifft.“

Sehr sensible Menschen fühlen sich in diesen Situationen schnell überstimuliert, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht in der Öffentlichkeit stehen können. Wichtig ist, dass man selbst den richtigen Weg für sich findet – so wie Melina: „Ich weiß heute, wo meine Grenzen liegen und wann ich einen Strich ziehen muss“, sagt sie. „Dann brauche ich Ruhe und muss mich etwas erholen, damit ich wieder Kraft für die nächsten Aufgaben oder Events habe.“

Hochsensibel: Alles ist so intensiv
Über Melina Royer

Gemeinsam mit ihrem Mann Timon hat Melina „Vanilla Mind“ gegründet. Sie geben Online-Kurse, veröffentlichen Beiträge, produzieren einen Podcast und schreiben Bücher zum Thema. Ihre Message: „Wir beweisen, dass zurückhaltende Menschen eine Menge zu sagen haben!“ All ihre Angebote und Inhalte findest du auf vanilla-mind.de oder bei Instagram.