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Let’s talk about LGBTQIA+:

Warum müssen wir 2021 noch immer über Sexualitäten anderer Menschen diskutieren?

LGBTQIA+-Expertin, Josephine Drews, im Interview
Text: Carina Rother
Fotos: Paul Robert Kothe
05.10.2021
Josephine Drews
Für mich ist es unverständlich, dass wir uns überhaupt über die Sexualität eines Menschen im 21. Jahrhundert unterhalten müssen. Jede Form sollte akzeptiert werden. Weil es für die Gleichberechtigung also noch immer notwendig ist, haben wir mit Josephine Drews über die LGBTQIA+-Bewegung unterhalten. Erfahre mehr über zugehörige Personengruppen und was du im Alltag mehr für sie tun kannst.
Beginnen wir zum Einstieg mit der Erläuterung von LGBTQIA+: Es ist ein Akronym für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle/Transgender-, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen.

Die Sexualität einer Person macht einen großen Anteil der Persönlichkeit aus. Jeder sollte selbst bestimmen können, wen er wie liebt ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Warum wir allerdings noch nicht an dem Punkt sind, das diverse Formen der Sexualität akzeptiert sind ebenso wie die Heterosexualität? Wir haben Möglichkeiten aufgeführt.

Josephine Drews, Gründerin von FEMgmt sowie Expertin für LGBTQIA+ und Diversity, „ist eine starke, kompetente, kluge Frau, die etwas Neues erschaffen will. Sie fordert Mut zur Lücke. Für mehr Vielfalt und Diversität in der Influencer Branche“.

Josy, warum liegen dir die genannten Themen am Herzen? Warum setzt du dich dafür ein?

Ich wurde schon sehr früh mit dem Thema Homosexualität in meiner Familie konfrontiert. Meine Tante, die ich sehr liebe, ist lesbisch. Sie hat sich mit 18 Jahren geoutet und das, obwohl sie in der ehemaligen DDR gelebt hat, die also mit all den Regeln und Vorschriften existierte. Ich denke, wir wissen, was das bedeutete. Meine Tante hat damals beschlossen auszusprechen, dass sie Frauen liebt und dazu steht.

Von klein auf hatte ich eine enge Bindung zu ihr und kann mich sehr gut daran erinnern, dass ich auf Familienfeiern Frauen an ihrer Seite wahrgenommen habe. Es waren die Freundinnen meiner Tante. Und das war absolut okay. Nie wurde so getan als seien sie „nur eine Freundin“. Es war immer klar, dass es die jeweilige Partnerin war.

Darüber hinaus hatte ich einen Onkel, der schwul war und es wird hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass er leider an AIDS verstorben sei. Bedauerlicherweise war das genau das Klischee. Anfangs hat er in einer heteronormativen Ehe gelebt, brach dann aber aus dem Konstrukt aus, weil er merkte, dass er schwul war. Mein Onkel lebte sich in Berlin aus und ist dann, wie gesagt, verstorben.

Das Thema war also schon immer in meiner Familie präsent. Hinzu kommt, dass ich selber schon sehr früh – im Kindergarten – gemerkt habe, dass ich mich auch in Mädchen “verlieben” kann - wenn man das in dem Alter überhaupt als das bezeichnen kann. Das spannende ist, dass ich als Kind dachte, wenn ich mich in ein Mädchen verliebe, dann muss ich ein Junge sein.

Also habe ich dem entsprechenden Mädchen erzählt, dass ich ein Junge sei.

Das ist ja interessant.

Das ist natürlich mit der Zeit total verschwommen. Es ist nicht so, dass ich heute denke, ich sei ein Mann. Heute lebe ich in einer „ganz normalen“ heteronormativen, monogamen Beziehung mit einem Mann. Ich bin sehr glücklich. Was ich damit sagen möchte ist, dass ich schon sehr früh Berührungspunkte mit diesen Themen hatte und zudem im Teenageralter gemerkt habe, Bisexualität spielt bei mir eine Rolle. Mittlerweile weiß ich, dass ich pansexuell bin, weil mich eher die Persönlichkeit hinter dem Menschen anzieht. Das Geschlecht ist mir total egal!

Hinzukommt, dass ich natürlich sehe, wie viel Diskriminierung noch auf der ganzen Welt diesen Personengruppen gegenübersteht. Vor der Gründung meiner Influencer Marketing Agentur habe ich mich schon mit meinen Fokus-Themen auf Social Media auseinandergesetzt und beschäftigt. Ich war Aktivistin, auch wenn ich das damals nicht so wahrgenommen habe. Klar, wenn ich mich zu diesen Themen auf Social Media äußere und mich dafür einsetze, dann bezeichne ich es Aktivismus.

Absolut!

Im letzten Jahr kam es dann zu der Gründung. Anfangs wollte ich nur das Management für weibliche Influencer übernehmen, aber dann habe ich mich selbst hinterfragt: „Was ist mit den Themen Diversität und LGBTQIA+?“ Beide sind für mich genauso wichtig. Also habe ich mein Management unter drei Themen – Frauen, LGBTQIA+ und Diversität – gebündelt. Damit bin ich, deutschlandweit, das erste Influencer-Management mit diesem Fokus.

Das finde ich richtig großartig. Ich habe auch lange im Influencer Marketing gearbeitet und finde es toll, dass es eine Agentur mit dir gibt, die einen klaren Fokus findet. Mir geht es übrigens ebenso wie dir. Ich bin auch schon seit meiner Kindheit mit den Themen konfrontiert. Meine Mutter hat sehr viele lesbische Freundinnen. Es ist auch interessiert, dass sie alle in einem Haus wohnen. Alle in unterschiedlichen Wohnungen, aber dennoch zusammen. Und meine Eltern haben sich sehr früh getrennt, so war meine Mutter auf Hilfe aus ihrem Umkreis angewiesen. Daher habe ich auch regelmäßig Zeit bei diesen Freundinnen verbracht. Irgendwann habe ich meine Mama mal gefragt: „Warum sind hier eigentlich nur Frauen?“ Und dann sie mir erklärt, dass es nicht nur heterosexuelle Menschen gibt. So war es für mich geklärt und – wie auch vor dem Gespräch mit meiner Mutter – absolut normal. Deswegen begreife ich auch absolut nicht, warum diese Personengruppe diskriminiert wird. Ich verstehe es wirklich nicht! Ich bringe diesbezüglich auch eine Frage an dich mit. Denn es geht nicht in meinem Kopf, warum es so ist.

Das geht mir ganz genauso. Obwohl ich mich tagtäglich mit diesen Themen beschäftige und natürlich auch manchmal an meine Grenzen stoße. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich denke „Uff“! Wenn beispielsweise alteingesessene Unternehmen es einfach nicht hinkriegen, jene Menschen nicht zu diskriminieren.
Teilweise wandelt sich mein Unverständnis dann in Traurigkeit. Das ist schwierig für mich. Erst vor Kurzem habe ich von einem Fall in Israel gelesen: Ein junger schwuler Mann wurde von seinem Bruder – aufgrund seiner Sexualität – geköpft. Das sind Momente, in denen ich wirklich traurig werde und anfange zu weinen.

Wenn Menschenleben in Gefahr sind, hat es nichts mehr mit Unverständnis, sondern mit Menschenrechten zu tun.

Richtig! Ich stimme dir zu.

Ich komme da oft emotional an meine Grenzen.

Meine Mutter hat schon immer zu mir gesagt: „Es geht niemanden etwas an, wer wen liebt, warum und mit wem und eine Person Liebe machen will.“ So bin ich aufgewachsen und deswegen ist es für mich einfach so verrückt und unbegreiflich, welchen Formen der Diskriminierung noch so viele Menschen jeden Tag ausgesetzt sind.

Kommen wir zu deiner Arbeit: Was ist deine Vision? Was ist dein Ziel?

Meine Vision ist, diese Personengruppen (die oft noch Randgruppen sind) in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Das ist mein Credo! Warum sage ich das? Wir beide sind in unserer Bubble, in der wir nicht verstehen, warum wir Zwei uns hier gerade unterhalten müssen. Aber wenn wir aus dieser Bubble rausschauen und uns mit Menschen beschäftigen, die nicht in unserer Bubble sind, dann sieht man, das noch ganz viel Aufklärungsarbeit nötig ist.

Ich glaube, dass diese Themen unbedingt in Schulen besprochen werden müssen. Leider gibt es schon Elterninitiativen, die sich dagegen wehren, dass Kinder vermeintlich „gebrainwasht“ werden.

Wie bitte?

Ja, es geht wirklich um Aufklärungsarbeit. Das ist nicht meine Aufgabe, manchmal nur bedingt, wenn ich zum Beispiel Unternehmen aufkläre und sage „ihr müsst in diesen Zeiten diverser denken und in der Außenwirkung diverser werden“. Dann ist das natürlich eine Form von Aufklärungsarbeit, aber ich rede vor allem von den betroffenen Menschen. Ich rede von Transmenschen, die auf die Straße gehen oder über Social Media über diese Themen aufklären.

Meine Vision ist es also, diesen Personen einen Raum zu geben – auch in der Werbewirkung und Kooperationsmarketing, um sie dann in die Mitte der Gesellschaft zu bringen.

Es muss selbstverständlich werden, dass auch ein Boy in Make-Up Werbung für Kosmetikprodukte macht. Es soll einfach ganz normal sein.

Sehr, sehr schön. Danke dir! Du hast die Aufklärungsarbeit im Besonderen betont. Hast du etwas im Hinterkopf oder konkrete Tipps, was jede:r einzelne:r im Alltag machen kann?

Da gibt es aus meiner Sicht zwei ganz wichtige Sachen: Zum Einen ist es das Gendern, weil damit wirklich alle mitgedacht werden. Das genderneutrale Sprechen ist noch wichtiger, weil es Menschen miteinschließt, die z.B. nicht binär sind. Zum Anderen sollten wir damit anfangen, uns mit Pronomen vorzustellen. Das klingt für viele total verrückt, sollte aber mehr mitgedacht werden.
Ich mache das auch und ich wurde von einigen Personen gefragt „Bist du bescheuert? Warum schreibst du in deinen Social Media Kanal „she/her“ rein? Es ist doch ganz offensichtlich, dass du eine Frau bist.“ Meine Antwort war: „Moment, du kennst mich und du weißt, dass ich eine Frau bin. Was ist aber mit Menschen, die mich nicht kennen und auf den ersten Blick erst mal herausfinden müssen, ob ich weiblich gelesen werden möchte.“

Das kann man aus meiner Sicht im Alltag schon ganz gut umsetzen.

Ein weiterer Tipp: Man sollte aufhören, in typischen Geschlechterrollen zu denken. Also vermeiden zu denken „Das ist typisch Mann/Frau…“.

Insgesamt weiß ich, dass es noch wahnsinnig viel Arbeit ist und erst die Generation nach uns wirklich Normalität in die ganze Thematik reinbringen wird. Meine Idealvorstellung ist: Wenn ein Kind zukünftig geboren wird, wird das Geschlecht nicht bei der Geburt bestimmt. Das Kind selbst sollte mit der Volljährigkeit entscheiden können, welchem Geschlecht es sich zuordnen möchte.

Das ist eine sehr interessante Vision! Ich bin gespannt, ob wir diese schon miterleben dürfen. Dazu habe ich auch eine Anekdote aus dem privaten Leben. Der Sohn einer Freundin meiner Mutter ist vor über 30 Jahren auf die Welt gekommen und war ganz offensichtlich kein Junge bzw. konnte sich wirklich bereits in Kindertagen nicht mit seinem Geschlecht identifizieren. Er hat sehr darunter gelitten, ist teilweise aus der Familie verstoßen worden. Die Tatsache, dass er lieber mit den Handtaschen der Oma gespielt hat und damit durch die typische Einfamilienhaus-Siedlung gelaufen ist, ist gar nicht gut angekommen. Leider stand in der Familie niemand wirklich hinter ihm, sodass er letztendlich auch in eine Drogensucht verfallen ist. Jetzt kommt das große und schöne „aber“: Er hat sich selbst gerettet, eine Therapie begonnen und lässt sich aktuell zur Frau umoperieren. Auch er hat es jetzt nach vielen Jahren geschafft zu sich zu stehen – genauso wie er ist.

Wir gefährden Leben, wenn wir nicht aufklären und uns nicht dafür einsetzen.

Letztens auf dem CSD in Hamburg sah ich eine Person, die m.M.n. Spuren von Selbstverletzung auf dem Unterarm hatte. Bei den einen ist es die Drogenabhängigkeit, bei den anderen ist es die Selbstverletzung. Dennoch ist diese Person stolz mit einer queeren Fahne über den CSD gelaufen! Die Solidarität mit diesen Personengruppen rettet Leben.

Absolut! Du sagst es. Es gehen in jedem Fall Leben verloren. Wenn ein Mensch sich vielleicht nicht umbringt, führt dieser Mensch oftmals dennoch ein Leben, was weniger lebenswert ist und viele dunkle Stunden hat: weil er/sie sich versteckt, weil er/sie psychische Probleme hat… Fakt ist also: Wir müssen etwas tun! Darum gibt es diesen Artikel auch in unserem Magazin. Auch das ist für mich ein Thema der persönlichen Weiterentwicklung. Selbst wenn man in seinem Leben nur wenig mit unserem heutigen Thema konfrontiert ist, ist es aus meiner Sicht sehr wichtig, sich bewusst zu machen, dass all die vorhin geschilderten Dinge passieren. Jeder sollte sich fragen, was er/sie tun kann – für das eigene Umfeld, für die betroffenen Menschen. Wir wissen oft nicht, wer in unserem Umfeld zu LGBTQIA+ zählt, es nicht äußert bzw. nicht dazu steht – beispielsweise im Arbeitsumfeld. Indirekt tangiert es uns also immer! Und viele Unternehmen tragen – aus meiner bisherigen Erfahrung – nicht wirklich dazu bei, dass sich queere Menschen auch im Berufsleben so zeigen, wie sie sind. Vielleicht schreiben sie die Stellenausschreibung genderneutral, oftmals hört es aber dann schon wieder auf. Nicht immer, aber heute immer noch oft genug. Kommen wir zu dem Angebot deiner Agentur. Wie wurde dieses angenommen? Gab es kritische Stimmen – sowohl von Unternehmensseite als auch aus dem persönlichen Umfeld?

Aus meinem privaten Umfeld wurde es natürlich aufgrund dessen, das wir in der Bubble leben, sehr positiv aufgenommen und auch in der Branche. Ich muss sagen, es ist eingeschlagen wie eine Bombe. FEMgmt gibt es erst seit November 2020 und es ist jetzt schon so erfolgreich, dass ich merke: Ich schaffe es alleine nicht mehr. Ich brauche Unterstützung. Unser Portfolio wächst immer weiter. Angefangen habe ich mit drei exklusiven und etwa eine Hand voll non-exklusiven Influencer:innen, mittlerweile sind es 31 Personen. What the fuck.

Im privaten Umfeld gab es eine Person, die mit Vorwürfen auf mich zu kam. Sie hat mir vorgehalten, dass ich mit meiner Arbeit Männer ausgrenze und diese gar nicht in mein Portfolio aufnehmen könne. Meine Antwort war: „Klar kann ich das so lange sie LGBTQIA+ konform sind – also gay, polyamor oder Ähnliches.“

Aber mit einem weißen Cis-Mann kann ich nicht arbeiten, da würde ich mir selbst ins Fleisch schneiden. Wenn ich mich auf diese Themen spezialisiere, dann gibt es auch kein Drumherum. In Hinsicht auf Unternehmen habe ich bisher erlebt, dass sie anfangs begeistert sind, aber wenn es dann um die Umsetzung geht, merkt man, dass sich oft doch nicht getraut wird.

Als Beispiel, ich bin gerade mit einem sehr traditionellen Unternehmen im Gespräch. Ich habe ihnen ein sehr diverses Konzept eingereicht, heißt: Von fünf Personen waren drei divers. Eine Person war schwarz, es gab ein Boy in Make-up und eine Transfrau. Die anderen Personen waren cis-weiß. Die Reaktionen darauf waren etwa: „Toll, wir wollen genau das leben.“ Zwei Wochen später kam allerdings ein Vertrag, in dem nur die zwei nicht-diversen Influencer:innen ausgewählt wurden. Da sind wir auch wieder beim Thema Solidarität: Diese präferierten Personen haben dann gesagt, wenn die anderen beiden nicht dabei sind, sind wir es auch nicht!

Das ist stark!

Es geht wirklich um Solidarität und Mitgefühl. Ich habe das große Glück, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die mitfühlend und solidarisch sind. Parallel zu meiner vorherigen Schilderung sehe ich Unternehmen, die auf Diversität sehr viel Wert legen. Gerne nenne ich an dieser Stelle gitti, die in der Außenwirkung Männer und Frauen jeglichen Alters oder Hautfarbe zeigen. Das liebe ich sehr. Auch andere Unternehmen wie Douglas, die z.B. mit Boy in Make-Up David Lovric zusammenarbeiten, gehen hier voran. Bei anderen ist es, wie gesagt, noch etwas Arbeit.

Darf ich fragen: Ist das Unternehmen, von dem wir eingangs sprachen, auf dich zugekommen oder bist du aktiv geworden?

Sie sind auf mich zugekommen. (Anm. d. Red: sagt Josy schmunzelnd.)

Ach, das ist ja spannend. Sie kommen auf dich zu und entscheiden sich dann doch dagegen.

Dazu muss man sagen, sie sind auf mich zugekommen, weil sie eine bestimmte Influencerin haben wollten. Aber wenn sie sich im Vorfeld mit dem Management beschäftigt hätten, in dem die Influencerin ist, dann hätten sie schon verstehen müssen, dass etwas in diese Richtung auf sie zukommt. Ich bin aber auch ganz ehrlich: Ich erwarte nicht, dass ein Wandel mit einem Fingerschnips von heute auf morgen in den Köpfen stattfindet. Es braucht Zeit. Darum schreibe ich auch keine fiese Mail, sondern mache einfach auf uns und unsere Werte als FEMgmt aufmerksam.

Super, um deine Werte auch im Business auszuleben, hast du dich bestimmt auch selbstständig gemacht, oder?

Auf jeden Fall!

Du hast es schon zwei Mal angesprochen: Dir ist bewusst, dass Veränderungen nicht von heute auf morgen passieren. Du nimmst die Dynamik und die Fortschritte in der Gesellschaft wahr und schätzt sie. Wenn wir nun gemeinsam in die Geschichte der queeren Bewegung blicken: Was würdest du sagen, wenn wir von Anfang der Bewegung bis jetzt schauen – wie weit sind wir mit dem Status quo vom Ziel aktuell entfernt? Das Ziel ist dabei deine Vision. Wie viele Kilometer müssen wir noch laufen?

Ich sehe unseren Weg gerne in Generationen. Ich bin der Meinung, dass noch zwei bis drei Generationen gehen müssen, bis wir zu einer Selbstverständlichkeit kommen. Gerade wenn ich an die Themen Gendern und Geschlecht im Allgemeinen denke. Warum gibt es Geschlechter? Viele Jahrhunderte gab es nur das Bild von Mann und Frau…
Wir fangen erst gerade an, etwas wirklich zu verändern und die Generation nach uns wird diese Veränderung mehr festigen. Auch weil die Community immer größer wird. Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich auf der Straße immer mehr queere Menschen sehe als vor 20 Jahren. Wenn ich an meine Heimatstadt Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern denke, will ich eigentlich nicht die Schublade öffnen, aber für mich ist es ein Bundesland, das manchmal noch sehr hinterwäldlerisch unterwegs ist. Wenn ich dort durch die Straßen gehe, sehe ich selten queeren Menschen. Wenn man aber in Großstädten unterwegs ist, wie beispielsweise Hamburg, dann ist dort deutlich mehr Queerness präsent.

Ich merke, wie glücklich ich bin, wenn queere Menschen unterwegs sind und wenn ich höre, dass Leute gendern. Es passiert endlich was!

Wenn man also aus unserer Bubble heraus guckt, dann müssen – aus meiner Sicht – einfach noch mehrere Generationen gehen, bevor das Thema sich noch mehr manifestiert. Meine Mutter muss zum Beispiel nicht mehr lernen, wie man gendert.

Man kann Menschen ja auch nicht zwingen.

Ja, es ist auch ganz klar ein Generationsthema. Es gibt auch Leute in ihren 70gern aus meiner Familie, die zum Gendern sagen: „Das ist doch Quatsch! Das habe ich noch nie gemacht. Jetzt muss ich es auch nicht.“ Und das ist auch vollkommen okay. Dennoch sollte man aufklären und die jüngere Generation mitnehmen – da sind wir wieder beim Thema.

Vielen Dank, dass du so viel auch aus deinem privaten Umfeld teilst. Ich teile gerne auch an dieser Stelle meine eigene Wahrnehmung: Ich lebe in Baden-Württemberg und empfinde dieses Bundesland als super hinterwäldlerisch, wenn es um unser heutiges Thema geht. Und auch noch einige andere, das tut aber heute nichts zur Sache. Hier regiert noch immer ein Grey Club, wie ich ihn nenne, mit viel zu vielen Mitgliedern. Ich komme ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, habe lange in Düsseldorf gelebt und stelle einfach oft fest – Baden-Württemberg ist nicht so offen und an manchen Stellen eingestaubt. Letztens habe ich mich total gefreut als ich raus in die Natur fuhr – dabei muss ich an einem Veranstaltungsort vorbeifahren – und es hat dort der CSD Stuttgart gefeiert. Ich hielt vor dem Zebrasteifen und ein leicht angetrunkener, süßer queerer Mann lief, zwinkerte mir zu und gab mir einen Luftkuss. Ich habe ihn erwidert. Wir haben uns beide so sehr gefreut. Ich weiß nicht, ob er mit Gegenwind gerechnet hat und deswegen vielleicht auch überrascht war über meine Reaktion – so kam es mir kurz vor. Das war für mich ein queeres Highlight in Stuttgart.

Ja, verstehe ich total. Ich lebe in München. München ist an sich etwas offener. In meinem Stadtteil Haidhausen, der ein bisschen konservativer ist, sieht es vielleicht anders aus. Aber ich kenne die Begegnung, wie du sie gerade geschildert hast, sehr gut. Man kommt sich so verbunden vor, wie in einem Fight Club. Das ist für mich Allyship, wenn man sich gegenseitig grüßt und sich indirekt sagt „halt durch“. So war es bei mir auch im Hamburg als der CSD stattgefunden hat. Ich habe einige queere Leute dann, auf meinem Weg zurück nach München, am Bahnhof gesehen. Leider konnte ich aus Zeitgründen nicht zum CSD gehen. Es war schön zu sehen, wie wir uns gegenseitig zugenickt haben.

Toll! Ja, man spürt oder sieht (ohne ersichtliche Kennzeichen wie eine Flagge an Tagen des CSD), dass man vom gleichen Schlag ist. Kommen wir von den positiven Begegnungen zu Fortschritten. Wenn wir uns die letzten fünf Jahre anschauen: Was waren die größten Erfolge, die durch die queere Bewegung erreicht wurden?

Das Thema Gendern ist für mich ganz klar einer der wichtigsten Fortschritte. Ebenso wie Pronomen. Sie werden noch nicht genug eingesetzt, aber mehr als noch vor ein paar Jahren. Und ich glaube, dass der Pride Month mittlerweile ganzjährig zu sehen ist. Es gibt übers Jahr verteilt so viele Veranstaltungen. Auch ist die Sichtbarkeit queerer Leute größer geworden, beispielsweise werden z.B. mehr Transmenschen in Talkshows eingeladen. Ganz spontan fallen mir diese Sachen ein.

Ich habe mir im Vorfeld eine Frage gestellt: Unsere Gesellschaft besinnt sich einerseits wieder sehr stark auf Traditionen oder versucht einen Halt zu finden in der dynamischen Welt. Andererseits ist die Bewegung aber stärker geworden, mehr queere Menschen sind sichtbar. Glaubst du, dass die Personen, die sich wieder auf ältere Werte beziehen auch diejenigen sind, die nichts mit LGBTQIA+ anfangen können? Denkst du, es schließt einander aus?

Ich habe das Gefühl, die Menschen, die immer mehr zur Natur, Tradition und Selbstversorgung zurückzufinden, haben mit der queeren Bewegung eines gemeinsam: den Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit. Es schließt einander nicht aus. Was anderes ist es natürlich, wenn Leute glauben, dass das ideale Leben nur aus Mann+Frau+Kind+Hund+Haus+Hof die richtige Variante ist und alles andere nicht richtig ist, dann wird es schwierig.

Danke für deine Gedanken. Die Frage ist mir gestern Abend noch gekommen und ich wollte unbedingt deine Sicht der Dinge dazu hören. Wenn wir uns nun Menschen anschauen, die die queere Bewegung ablehnen. Welche Gründe können dahinterstecken? Ist es Unwissenheit oder sind es Ängste? Hast du Erfahrungen gemacht, kannst es ganz konkret benennen?

Ich versuche meine Vermutungen mal so einfach wie möglich zu erklären. Sie mögen vielleicht überheblich klingen, aber ich wage es. Ich bin der Meinung, dass viele Menschen es nicht gelernt haben, über ihre Ängste oder Bedürfnisse zu sprechen. Also ist nur ein Bruchteil der Gesellschaft in der Lage, sich zu reflektieren und kommunikativ miteinander umzugehen. Sie haben es nicht gelernt. Oft auch bedingt durch die vorherige Generation, die den ersten und/oder zweiten Weltkrieg miterlebt hat. Da spielen Traumata eine Rolle, die nie aufgearbeitet wurden.

In unserer Generation fangen wir an, über Dinge zu sprechen – auch eine Therapie ist beispielsweise mittlerweile etwas ganz Normales. Menschen, die also nicht in der Lage sind, über bestimmte Themen frei, reflektiert und offen zu sprechen, sind genau dann konfrontiert, wenn sie jemanden sehen, der frei und selbstbestimmt leben kann.

Dieses selbstgewählte Ausleben provoziert viele Menschen und löst Gedanken aus wie: „Ach, die können sich jetzt so leben, wie sie wollen. Ich bin hier aber in meinen Mustern und meinem Alltag gefangen. Ich kann das nicht, warum also sie.“ Und diese Gedanken spielen sich dann vielleicht auch nur im Unterbewusstsein ab. Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft sind also gefangen in Vorstellungen oder Vorgaben, wie sie ein Leben führen müssen. Und vielleicht gibt es in den Menschen, die sich provoziert fühlen, auch einen Teil, der sich mit der queeren Bewegung identifizieren kann. Es kann aber auch religiöse Gründe haben, die einschränken.

In Amerika gibt es aktuell eine kirchlich getriebene Bewegung, die queere Personen bekehren möchten, indem sie sagen oder schreiben: „Gott glaubt an dich. Du wirst den richtigen Weg finden. Wir unterstützen dich dabei.“ Sie nehmen Gott als Entschuldigung für ihr übergriffiges Verhalten.

Also es gibt unterschiedliche Gründe, warum Menschen ablehnen und eine ganz klare Entscheidung gegen LGBTQIA+ Personen treffen.

Danke dir für deine persönliche und umfangreiche Einschätzung, die für mich und unsere Leser:innen sehr wichtig ist. Welche Queers oder andere Personengruppen profitieren am meisten von der Bewegung? Und gibt es vielleicht auch Personen innerhalb der Gruppen, die nicht davon profitieren? Was ist deine Wahrnehmung?

Das Thema Pansexualität bekommt noch nicht so viel Raum, wie es vielleicht schön wäre. Oft wird Pansexualität mit Bisexualität in einen Topf geworfen. Aber das Wort „Bi“ sagt es ja schon: Bi schließt nur zwei Formen/Personen ein – Mann und Frau. Auch ich habe viele Jahre gesagt, dass ich bisexuell bin, bis ich für mich festgestellt habe, dass ich das nicht bin. Deswegen sollte Pansexualität mehr in den Fokus gerückt werden. Es geht nämlich um die Person an sich, das Geschlecht spielt keine Rolle.

Bisexuelle werden in der queeren Community tatsächlich auch oft diskriminiert, weil vorgeworfen wird, dass man sich nicht festlegen will.

Wenn es darum geht, wer am meisten profitiert, würde ich mich gar nicht festlegen wollen. Ich glaube, dass das Thema schwul und lesbisch sein in der Außenwahrnehmung viel populärer ist als viele andere Sexualitäten. Es gibt ja bereits Sendungen im Free TV wie „Prince Charming“, um ein Beispiel zu nennen, die diese Formen der Sexualität in den Fokus stellt und für viele bewusster macht.

Dennoch gibt es noch viel mehr: Transsexualität, nicht-binäre Person. Nicht-binär sein ist auch ein spannendes Thema. Im Englischen haben wir das Pronomen „they“. Im Deutschen „sie“ kann es allerdings mit der weiblichen Person Singular verwechselt werden. Daher ist es in Deutschland üblich, den Namen der nicht-binären Person als Pronomen zu verwenden. Beispiel: “Es wäre toll, wenn Leo dabei ist” oder “Leo liest ein Buch”.

Ein Tipp: Bloß nicht zu sehr in die Opferrolle fallen, wenn man eine Person falsch gendert oder das falsche Pronomen verwendet. Andernfalls bekommt die gegenüberstehende Person das Gefühl, dass sie dich “trösten” oder “von deiner Schuld befreien” muss. Das ist nicht ihre Aufgabe. Es ist ganz normal Fehler zu machen. Sich selbst kurz korrigieren und weitermachen.

Klar, guter Hinweis! Wenn man einen Namen falsch von einer Kolleg:in ausspricht, verfällt man auch nicht automatisch in eine Opferhaltung.

Abschließend würde ich nicht sagen, dass eine Geschlechts- oder Sexualidentität mehr profitiert als eine andere. Die eine ist vielleicht nur populärer und medienwirksamer als die andere.

Gut, gerade wenn es um das Thema Pansexualität geht, kann auch ich noch einiges lernen.

Eine Anmerkung vielleicht noch zur Ursprungsfrage: Wenn wir beim Thema Geschlechtsidentitäten sind, geht oft – neben Transsexualität und non-binärer Sexualität – die genderfluide Sexualität verloren. Es ist so interessant, dass Menschen zwischen verschiedenen Geschlechtern fluide unterwegs sind. Genderfluide Personen bemerken an sich Rollenwechsel, je nachdem mit welchem Geschlecht sie aktuell zusammen sind. Aus der Sicht einer Frau kann es dann zum Beispiel folgendermaßen sein: Wenn sie mit einer Frau intim wird, bemerkt sie vielleicht eher maskulinere Züge an sich. Wenn sie hingegen mit einem Mann zusammen ist, überwiegen die feminineren Züge. Oder genau andersherum. Das kann ein Wechselbad der Geschlechterrollen sein.

Da habe ich tatsächlich auch eine kurze Dokumentation gestern bei Arte gesehen.

Ich kann das auch aus eigener Erfahrung bestätigen. Auch ich bemerke deutliche Veränderungen in meinen Charakterzügen, wenn ich mit unterschiedlichen Geschlechtern intim werde. Das ist irritierend, aber wenn man sich darauf einlässt und es als Geschenk betrachtet, dann ist das total toll. Man ist so viel freier!

Grundsätzlich ist es ja sehr wichtig sich so zu nehmen, wie man ist. Ein elementarer Punkt für ein glückliches und erfülltes Leben. Gibt es in der Szene Menschen, die die Aufmerksamkeit durch die queere Bewegung als zu viel betrachten und den Aktivismus für sich gar nicht benötigen?

Da müsste ich kurz überlegen. Nur im Bezug auf den Feminismus. Da erlebe ich immer wieder, dass Frauen sagen, so wie sie jetzt leben, sind sie happy und brauchen den Feminismus nicht. Ihn sogar als „Quatsch“ bezeichnen. Aber in der queeren Community nicht, nein. Ich zitiere gerne Phenix, eine Transfrau aus meinem Portfolio: „Ich hoffe, dass ich in 10 Jahren nicht mehr aktivistisch sein muss, weil all das selbstverständlich sein wird.“ Hast du das schon erlebt?

Auch nicht, nein. Mich hat es allerdings interessiert, weil man solche Stimmen aus anderen Communities erlebt. So kam dann die Frage auch für die queere Community. Ich habe lediglich Stimmen gehört, die sagen, dass der Aktivismus nicht ihrem Weg und Wesen entspricht und sie deshalb nicht selbst aktiv sein möchten, aber dennoch schätzen, dass es andere Personen aus der Community machen. Langsam kommen wir zum Ende: Was würdest du abschließend sagen, warum wir immer noch an dem Mann und Frau Prinzip festhalten?

Für mich ist da ganz klar das Patriarchat der Grund, warum vor allem Männer auch heute noch die Entscheidungsträger sind. Die meisten Machtpositionen sind durch alte, weiße Cis-Männer besetzt. Dadurch, dass die Macht und das viele Geld bei diesen Personen liegt, bestimmen sie immer noch – das politische Leben und das gesellschaftliche Miteinander! Deswegen ist das Patriarchat der Grund, warum Mann und Frau noch so präsent sind.

Das Patriarchat ist also für mich die Antwort auf deine Frage und die Antwort darauf, warum wir im Kopf noch nicht so flexibel sein können. Die äußeren Gegebenheiten sind durch das Patriarchat einfach noch nicht divers genug.

Da bin ich ganz arg bei dir. Da sprichst du mir aus der Seele. Ich freue mich, wenn die Patriarchen dieser Welt in Rente gehen dürfen. Abschließend unsere typische Interviewfrage: Genki hat sehr viele positive Bedeutungen wie Lebenskraft, Lebensfreude, Mut. Was gibt dir Kraft für deine Arbeit und deine Vision?

Erfolge in jeglicher Hinsicht: seien sie privat, beruflich oder politisch. Wenn ich sehe, dass gewisse Dinge passieren, weil man sich dafür einsetzt und für mehr Sichtbarkeit kämpft, dann ist das ein unglaublicher Motivator weiterzumachen. Wenn ich diese Erfolge nicht hätte, dann würde ich mich schon irgendwann hinterfragen, warum ich das alles mache.

Spielen die Erfolge auch eine Rolle, wenn du deinem Portfolio Mut zusprichst für ihre Arbeit?

Ich würde eher offene Kommunikation hier nennen wollen. Ich arbeite mit Menschen und kreativen Köpfen zusammen. Menschen haben Bedürfnisse, Ängste, Erfahrungen und deswegen muss ich bei jeder einzelnen Person überlegen, wie ich mit ihr am besten in den Dialog gehe. Was kann ich sagen und was nicht? Was sind ihre Stärken und Schwächen?

Ehrlicherweise kommt mir meine Erzieherinnenausbildung, die ich in Hamburg gemacht habe, zugute. Vor allem das empathische Einfühlen in unterschiedliche Menschen spielt hier eine zentrale Rolle.

Ich habe da einen ganz aktuellen Fall: Eine Influencerin aus meinem Portfolio hatte eine Kooperation mit einem Periodenunterwäsche-Hersteller. Sie sollte bei einem Shooting als Model agieren. Das hat sie vorher noch nicht gemacht und war demnach etwas unsicher. Meine Empfehlung war: „Mach doch einfach mal und schaue, wie es sich anfühlt.“ Sie war danach total happy und stolz. Manchmal muss ich also auch „schupsen“. So ähnlich ist es natürlich mit meiner Selbstständigkeit. Viele haben mich im Vorfeld gefragt: „Josy, was ist wenn du scheiterst?“ Dann scheitere ich eben. Aber dann muss ich mir nicht selbst vorwerfen, dass ich es nie versucht habe.

So ging es mir auch. Mein Gedanke bei der Gründung war: „Wenn nicht jetzt wann dann.“ Ich habe den Gedanken der Selbstständigkeit schon im Studium mit mir getragen, habe es lange nicht gemacht und fühlte in mir aber ganz arg den Wunsch und wollte mir diesen erfüllen. Und natürlich hatte ich auch den Gedanken, was ist, wenn alles in die Hose geht, aber das Risiko war und ist mir noch immer lieber, als es nie probiert zu haben.

Josy, ich danke dir sehr für deine Zeit, deine spannenden und wertvollen Eindrücke.

Sehr, sehr gerne. Was ich abschließend an die Unternehmer:innen sagen möchte ist, dass man sich ruhig trauen sollte diverser zu denken und es nicht nur in der Außenwirkung zu leben, sondern auch im Inneren.

Schön, dass sind tolle abschließende Worte.

Zum Abschluss möchten wir dir noch eine elektronische Playlist von LGBTIQA+-Künstler:innen ans Herz legen: