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Unser Atem: Ein magisches Tool

Wie du dich herunterfahren, mit Energie versorgen und zu vollem Fokus atmen kannst
Text: Julia Felicitas Allmann
Fotos: Isabel Reinhard, Unsplash
15.04.2021
Florale Wand mit Aufschrift "and breathe"
Der Atem ist Teil unserer „inneren Apotheke“: Er bringt uns zu mehr Präsenz, in die volle Power oder hilft dabei, uns zu zentrieren – wenn wir ihn richtig einsetzen. Voice- und Atemcoach Isabel Reinhard hat uns verraten, wie wir die Atmung als Tool nutzen können, wie viel Training das braucht und welche Übungen sofort helfen.

Während du diesen Text liest, atmest du etwa 120-mal ein und aus – vielleicht auch 150-mal. Wie schnell dein Atem geht, hängt von deinem Stresslevel ab, von deinem Gesundheitszustand und von regelmäßigem Training. Andersherum gilt: Wie gut es dir geht, wie nervös du bist oder wie konzentriert, das kannst du selbst durch die Frequenz deines Atems steuern.

„Unser Atem ist magisch“, sagt Isabel Reinhard. Sie ist ausgebildete Opernsängerin, gibt Stimm- und Atem-Coachings und inspiriert Menschen mit ihrer Marke „Breathe Release“ dazu, ihrem Atem mehr Aufmerksamkeit zu schenken und ihn gezielt als Werkzeug einzusetzen. „Wir können unsere Stimme und Körperlichkeit durch unseren Atem stärker ins Außen bringen. Wir können unsere Konzentration steigern, wir können unser Nervensystem beruhigen“, sagt Isabel. „Unser Atem kann am zentralen Nervensystem andocken und die Botschaft senden: Wir beruhigen uns jetzt, alles ist gut, wir kommen durch den Alltag.“

Unser Atem stimuliert den Vagusnerv

Es funktioniert ähnlich wie beim bewussten Lächeln, das unsere Stimmung hebt. Wenn wir die Mundwinkel nach oben ziehen, senden wir unserem Körper das Signal, dass es Grund zu guter Laune gibt, wir fühlen uns besser. Auch unseren Atem können wir so einsetzen: Atmen wir in stressigen Situationen ruhig und tief, signalisieren wir dem Körper, dass wir im Ruhezustand sind. Dass wir kurz Pause machen dürfen, dass es keinen Grund für einen Alarmzustand gibt. Wir senden beruhigende Impulse in den kompletten Organismus, er legt eine Mini-Pause im temporeichen Alltag ein.

Eine entscheidende Rolle dabei spielt der Vagusnerv, unser größter Nerv, der vom Hirnstamm bis in den Bauchraum verläuft. Er kommt dabei unter anderem an Herz, Lunge, Magen und Darm vorbei, spricht die Organe durch seine etwa 100.000 einzelnen Nervenfasern an und gehört zum Parasympathikus – dem beruhigenden Teil unseres Nervensystems. Aktivieren wir ihn, spüren wir das im ganzen Körper. „Wir können den Vagusnerv durch unsere Atmung beeinflussen“, erklärt Isabel. „Es ist wie ein mechanischer Einfluss von unserem Atem auf diesen großen Nerv. Wenn wir langsam und tief atmen, reagiert der Vagusnerv, er leitet beruhigende Signale an unseren Körper weiter.“

Isabel Reinhard, Stimmexpertin & Opernsängerin

Durch Spiegelneuronen überträgt sich unsere Stimmung

Und wenn wir selbst zentrierter werden, beeinflusst das auch unser Umfeld: „Sobald wir entspannt atmen, überträgt sich das auf unser Gegenüber“, sagt Isabel. „Das liegt an Spiegelneuronen, über die wir alle verfügen. Wenn jemand ganz hektisch atmet, werden auch wir nervös. Schaffen wir es stattdessen, zum Beispiel in einer Diskussion mit dem Partner, tief und langsam zu atmen und ruhig zu sprechen, dann beruhigt sich die ganze Situation.“ Auch Kinder sind sehr empfänglich für die Übertragung einer ruhigen Atmung. Bringen Eltern die Kleinen abends ins Bett und möchten, dass sie nach einem spannenden Tag herunterfahren und abschalten können, dann hilft eine tiefe und gleichmäßige Atmung im erwachsenen Körper.

Andersherum machen schnelle Atmung und hohe Herzfrequenz der Eltern auch die Kinder nervös: Sind wir gestresst, weil das Einschlafen nicht klappt, und atmen deshalb hektischer, macht das auch die kleinen Körper unruhiger – und das Abschalten wird noch schwieriger. Ein Teufelskreis, den wir durch gezielte Übungen im Idealfall durchbrechen können. Genauso können wir die Fähigkeit zur ruhigen und tiefen Atmung im Business-Kontext nutzen: In wichtigen Meetings oder bei einer hitzigen Diskussion mit dem Chef verstärkt sich die negativ aufgeladene Stimmung durch kurze Atemzüge und einen Körper im Alarmzustand. Wer sich selbst herunterfährt, gibt das auch ans Gegenüber weiter.

„Viele Mikrostadien von Überatmung“

Klingt alles gut – aber wie schaffen wir es, den Atem in diesen Situationen als Tool einzusetzen? Ihn zu verlangsamen, uns zu beruhigen und fokussieren, dadurch auf unser Umfeld auszustrahlen? „Wenn wir gestresst sind oder zum Beispiel im Job vor einem wichtigen Pitch stehen, wird unser Puls schneller“, sagt Isabel. „Auch unsere Atemfrequenz verkürzt sich, wir haben das Gefühl, wir müssen schneller Luft holen.“ Die extremste Ausprägung davon wäre ein Hyperventilieren, aber es gibt der Atem-Expertin zufolge „viele Mikrostadien von Überatmung“. Ein Gefühl der Enge in der Brust, den Eindruck, kaum Luft zu bekommen.

„Viele von uns machen dann den Fehler, dass sie versuchen, erst einmal richtig tief zu atmen – dann überatmen wir uns aber oft immer mehr“, sagt Isabel. „Wichtig ist es, immer einmal gut auszuatmen. Wenn ich selbst mal keinen guten Tag habe und vor einem Auftritt nervös bin, nehme ich die Arme über den Kopf und lasse mit einem Seufzer einmal alles raus, lasse die Arme nach unten fallen und wiederhole das zwei bis drei Mal. Dadurch kommt der Körper zurück in seine reguläre Atmung, ich lasse ihn einfach mal machen – eigentlich macht er ja alles richtig, wenn ich ihn nur lasse.“

Können wir uns auf diese Weise einmal erden und aus der stressigen Atem-Situation herausholen, kann die Atmung danach von ganz alleine wieder fließen. „Wenn ich weiß, ich darf mir die Zeit nehmen, mal richtig auszuatmen und in die Ruhe zu kommen, dann nimmt uns das dieses Gefühl, dass alles um uns herum flirrt. Ich kann mich fokussieren. Und ich weiß, dass ich dieses Tool immer für mich dabei habe.“

Drei Atem-Übungen für mehr Ruhe

Je nach Situation ist es für dich vielleicht nicht immer möglich, mit lautem Seufzen und ausladenden Armbewegungen mal alles herauszulassen – aber Isabel kennt auch Methoden, die du etwas dezenter einsetzen kannst.

  • Ausatmung verlängern:

    „Wenn ich ein Druckgefühl spüre und das Gefühl habe, mich nicht mehr so gut konzentrieren zu können, dann hilft es, wirklich gut auszuatmen. Oft atmen wir nicht zu Ende und das sorgt für Stress im Körper. Verlängern wir die Ausatmung, machen uns ganz leer und lassen die Einatmung danach von allein kommen, können wir uns danach besser fokussieren.“

  • Atem und Bewegung verbinden – und das muss nicht auf der Yogamatte sein:

    „Ich kann unter dem Schreibtisch meine Füße ein bisschen einheben und dabei einatmen, bei der Ausatmung sende ich sie ganz langsam wieder ab. Dabei beobachte ich, ob ich wirklich beides gleichzeitig bis zum Ende durchführen kann, und lege gezielt den Fokus darauf. Das lässt den Körper etwas herunterkommen und steigert die Konzentration.“

  • „Auf Buchstaben“ ausatmen:

    „Ebenfalls super ist es, die Ausatmung zu verlängern und dabei ein leichtes F auf den Lippen zu haben. So entsteht ganz lose ein leichter Widerstand, dadurch wird der Atem automatisch länger. Auch bei einem W spürt man eine kleine Vibration, die den Vagusnerv anregt, der ganze Körper kommt in eine Ruhe.“ Was genau damit gemeint ist, verstehst du am besten, wenn du es einfach mal ausprobierst.

Atemenergie nutzen: Das erfordert Training

Was bei all diesen Übungen und Techniken wichtig es: Wenn du deine Atemenergie für dich einsetzen möchtest, erfordert das Training. Je öfter du diese Methoden anwendest und je öfter du dich mit deinem Atem verbindest, desto besser funktioniert es – irgendwann klappt es ganz unbewusst. So wie der Einsatz von Kupplung und Gaspedal beim Autofahren, auf den du dich anfangs konzentrieren musst. Vielleicht hast du dich vorher noch nie bewusst mit deinem Atem und der Verbindung von Atmung und Bewegung beschäftigt. Dann ist der erste Schritt erst einmal: Deine Atmung kennenlernen.

„Manchmal kommen Menschen in meine Coachings, die am nächsten Tag einen wichtigen Pitch haben und deshalb schnell lernen wollen, wie sie ihren Atem gut einsetzen können“, sagt Isabel. „Aber ich glaube nicht daran, sofort in die Veränderung zu gehen – erst einmal sollten wir unseren Atem einfach wahrnehmen und eine Verbindung zu ihm aufbauen. Sonst können wir nichts damit anfangen, wenn wir hören, wir sollen Bauchatmung betreiben oder tief in den unteren Rücken atmen.“

Im ersten Schritt kannst du ganz für dich selbst beginnen: Beobachte für ein paar Minuten deinen Atem. Wie kommt und geht er, wo fließt er ein, wie fühlt er sich dort an? Was macht dein Körper, wenn du einmal versuchst, ihn nicht zu steuern? „Man muss sich dafür nicht fünf Minuten lang mit geschlossenen Augen auf ein Meditationskissen setzen“, sagt Isabel. „Das kann super klappen, aber es geht auch beim Spazieren: Einfach mal drauf achten, ob der Atem durch die Nase oder den Mund kommt, ob ich ihn in der Brust oder im Bauchraum spüre. Es geht darum, unseren Atem kennenzulernen. Denn was wir nicht kennen, können wir auch nicht anfassen und für uns einsetzen.“

Studien zeigen, wie magisch der Atem ist

Dass es sinnvoll ist, sich mit dem eigenen Atem auseinanderzusetzen, können wir nicht nur an uns selbst erleben – es ist auch durch Studien belegt. So hat zum Beispiel ein Forscherteam aus Chicago herausgefunden, dass die kognitive Leistung von der Art der Atmung abhängt. Proband*innen konnten sich abgebildete Gegenstände besser merken und auch ängstliche Personen besser erkennen, wenn sie dabei durch die Nase einatmeten – beim Ausatmen und bei der Atmung durch den Mund ließ die kognitive Aktivität nach.

Wissenschaftler*innen von Columbia- und Harvard-Universität beobachteten in einer Studie, dass kombinierte Yoga- und Atemübungen die Symptome von Depressionen lindern können. Andere Studien zeigen, dass die Verlangsamung der Atmung Stress reduzieren kann, Bluthochdruck reduziert und bei Frauen in den Wechseljahren Hitzewallungen erträglicher macht. Deshalb gilt Atem auch als Teil unserer „inneren Apotheke“, die wir selbst aktivieren können.

Ganz abgesehen von aktuellen wissenschaftlichen Untersuchungen: Schon im antiken Griechenland wurden Atemtechniken gelehrt, die geistiges Wachstum fördern sollten, bei den alten Ägyptern galt der Atem als Heilmittel – und in eigentlich allen spirituellen Richtungen wird der Atem als zentraler Bestandteil der Lebensenergie betrachtet. Er ist das verbindende Element in Meditationspraktiken, die seit Jahrhunderten weitergegeben werden. Er gilt als effektives Werkzeug, um unseren schnellen Geist zu beruhigen und den Fokus in uns selbst zu legen – und das können wir in der heutigen Gesellschaft vermutlich noch mehr gebrauchen als unsere antiken Vorfahren.

Es darf auch mal totaler Alarm sein

„Wir leben alle in einer enorm stressigen Zeit, schauen ständig nach links und rechts, nehmen so viel wahr – dadurch haben wie gesellschaftlich ganz viele Atemmuster etabliert, die nicht unbedingt gut tun“, sagt Isabel. „Ich bin gar nicht dafür, dass wir den ganzen Tag meditieren müssen und alles immer ‚Inner Zen‘ ist. Aber wenn wir den Atem richtig einsetzen, kann er uns durch anstrengende und energetisch raubende Zeiten führen.“ Vielleicht klappt es nicht immer und vor allem nicht sofort, dass wir uns selbst herunterfahren, wenn Körper und Geist völlig aufgebracht sind – und auch das darf mal sein.

„Wenn wir in einer wirklichen Stresssituation sind, vielleicht gerade mit Homeoffice, Homeschooling und emotionaler Belastung, dann herrscht nur Alarm“, sagt Isabel. „Dann kann man das auch anerkennen und dem Gefühl ‚Es geht mir schlecht‘ Raum geben. Aber vielleicht hilft es dann, den Brustkorb beim Ausatmen auszuklopfen und sich selbst zu suggerieren: Ich habe noch einen Körper und nicht nur den Stress im Kopf.“ Es gibt sicher nicht den einen Tipp, der zu uns allen passt – jede*r kann und darf für sich selbst herausfinden, was die passende Technik in welcher Situation ist. „Wir alle sind nur selbst in unseren Körpern und in unserem Leben, da gibt es große Varianzen – aber es ist eine spannende Entdeckungsreise“, sagt Isabel.

Müde und platt? Dein Atem bringt Energie

Und für deine eigene Entdeckungsreise verrät die Atem-Expertin dir noch zwei Tipps, die helfen können, wenn du dich müde und platt fühlst:

  • „Stelle dir vor, du musst lachen, lachst aber nicht. Du behältst das Lachen in dir drin. Dabei kontrahiert unser Zwerchfell etwas, man spürt eine Kernenergie in der Körpermitte, wie wenn man kichert – das kann mehr Energie in unserem Körper erzeugen.“

  • „Bei Müdigkeit hilft außerdem jede Form von Aktivität: Mache ein paar Kniebeugen oder laufe die Treppe im Büro oder Wohnhaus dreimal hoch und wieder runter. Dabei machst du dir bewusst, dass der Atem kommt und wieder geht und du löst eine Dysbalance zwischen Körper und Atem auf.“

Atem erzeugt Aktivität – und dadurch Präsenz

In ihren Coachings arbeitet Isabel mit Menschen aus verschiedensten Bereichen: Mit Sänger*innen, mit Menschen, die im Business überzeugender auftreten möchten, mit Personen, die stärker in sich selbst geerdet sein und authentischer leben möchten – denn immer ist der Atem zentrales Element. „Für mich gehört das alles zusammen“, sagt die Atem-Expertin. „Wenn ich meine Stimme trainiere und mit meinem Atem arbeiten kann, bin ich sesshafter in mir, trete viel klarer auf, bleibe mehr im jeweiligen Moment.“

Je stärker du dich mit deinem Atem verbindest, desto höher ist deine Präsenz: „Atem ist eine Bewegung im Körper“, sagt Isabel. „Wenn ich spüre, dass auch meine Rippen mobil und beweglich sind, wenn ich weiß, es ist Bewegung in meinem Körper, dann bin ich immer auch etwas durchlässig.“ Das führt dazu, dass wir uns nicht verkrampft und irgendwie steif fühlen, und das strahlt auf unser Gegenüber aus. „Wenn du merkst, ich bin lebendig, ich bin gerade so richtig da und ich spüre durch meinen Atem die Bewegung in meinem Körper, dann führt das zu enormer Präsenz – auf der Bühne und in jeder für uns wichtigen Situation.“

Isabel Reinhard ist studierte Opernsängerin, Performerin im Bereich Schauspiel und Burlesque-Tanz, Stimmtherapeutin und Vocal Coach. Mit ihrem eigenen Business „BREATHE-RELEASE“ bietet sie Stimm- und Präsenzcoachings an. Ihre Impulse und Tipps rund um Atem, Stimme und authentisches Auftreten gibt sie auch über Instagram weiter.