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Hochsensibel in einer Beziehung? Wie bereichernd!

Text: Julia Felicitas Allmann
Fotos: © Paul Hesse / www.lichtbildwirkung.at
14.04.2023
Julia Hesse
Wer hochsensibel ist, erlebt die Welt aus einer ganz besonderen Perspektive. In einer Beziehung kann das zu Herausforderungen führen – falls der Partner oder die Partnerin diesen besonderen Blick eben nicht teilt oder nachvollziehen kann. Durch einen offenen Umgang kann die Hochsensibilität die Beziehung aber bereichern und besonders intensiv erlebbar machen. Julia Hesse ist Coach für hochsensible Frauen und verrät hier, wie du deine Hochsensibilität in der Beziehung leben und von ihr profitieren kannst.

Gerade in der Anfangsphase einer Beziehung kann es schwer sein, die eigene Hochsensibilität direkt anzusprechen – dabei ist gerade das wichtig. „Nur wenn ich dem Anderen Einblicke in meine Welt gewähre, hat er auch die Chance, zu verstehen und nachzuvollziehen, wie ich ticke“, sagt Julia. „Und darum geht es ja in allen Beziehungen: ein Stück weit in die Welt des anderen einzutauchen und zu verstehen, wie der andere denkt und fühlt.“ Im Idealfall hat der Andere Verständnis, interessiert sich für die Hochsensibilität und ist dankbar dafür, dass du ihn so offen in deine Welt hereinlässt.

„Zeigt der/die Partner:in hingegen wenig bis kein Verständnis, tut das Ganze ab oder reagiert sonst irgendwie abschätzig, weiß man auch, woran man ist und kann überlegen, ob diese Beziehung wirklich das Richtige für einen ist“, so die Expertin. So hart das sein kann: Je schneller du weißt, ob du als hochsensible Person den richtigen Partner oder die richtige Partnerin gefunden hast, desto besser kannst du dich auf diese Beziehung einlassen – oder nicht.

Bitte keine Rechtfertigung

„Man sollte als hochsensible Person (HSP) vor allem aufpassen, nicht in die Rechtfertigungsfalle zu tappen. Dazu tendieren leider viele HSP“, sagt die Expertin. Entschuldige dich also nicht für deine Hochsensibilität. Stattdessen kannst du dein Gegenüber immer wieder an deinen eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen teilhaben lassen, um deine Perspektive erlebbar zu machen.

„Das heißt, offen zu kommunizieren, wenn einem etwas zu viel ist, wenn man etwas nicht möchte, wie man sich fühlt und was man braucht.“ Du kannst sozusagen eine Gebrauchsanleitung für dich selbst vermitteln. „Denn andere können nicht wissen, was wir brauchen – und es ist auch nicht ihre Aufgabe, es zu ‚erraten‘,“ sagt Julia.

Wahre deine Grenzen

Ein großes Thema für Hochsensible – ob in Beziehungen oder in anderen Kontexten – ist das richtige Setzen von Grenzen. Julia Hesse erlebt in ihrer Arbeit als Coach, dass viele Menschen deshalb in ihre Beratung kommen. „Gerade in partnerschaftlichen Beziehungen sind die Grenzen oft noch schwerer zu ziehen als bei Freunden oder anderen Menschen. Das liegt einfach daran, dass wir uns in Partnerschaften viel näher sind, viel mehr Zeit miteinander verbringen etc.“, sagt sie. „Essenziell ist es meines Erachtens, sich als HSP mit dem/der Partner:in auf Augenhöhe zu sehen. Beziehungen bestehen aus Geben und Nehmen, aus Kompromissen. Die Bedürfnisse des anderen sind nicht wichtiger oder wiegen nicht mehr als meine eigenen.“

Essenziell sei auch die Frage, warum man es den Anderen immer recht machen möchte. Steckt die Angst dahinter, den Partner oder die Partnerin zu enttäuschen, ihn zu verlieren oder einen Konflikt zu provozieren? „Dauerhaftes People Pleasing führt zwar vielleicht dazu, Konflikte zu vermeiden, ‚Ruhe‘ im Außen zu haben und dazu, dass alle anderen sich wohl fühlen, aber der Preis dafür ist hoch und lautet: Selbstverleugnung“, stellt Julia klar.

Eine authentische und intensive Beziehung lebt davon, dass sich beide Personen so zeigen, wie sie sind. Mit allen Facetten und auch mit ihrer eigenen Sensibilität.

Freiräume in einer Beziehung erschaffen

Wir alle brauchen unsere Freiräume und die Möglichkeit, mal ganz bei uns zu sein. „Für Hochsensible ist das besonders wichtig, da sie andernfalls Gefahr laufen, komplett zu überreizen und sich im Außen zu verlieren“, so Julia. „Rückzugsmöglichkeiten und Ruhe sind daher unerlässlich, um das hochsensible System wieder runterfahren zu können. Zudem müssen die zahlreichen Reize, die tagtäglich auf sie einströmen, auch irgendwann verarbeitet werden.“

Sich diese Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen, bezeichnet Julia Hesse als Königsdisziplin für viele hochsensible Personen, „da es hier wieder ganz stark darum geht, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen.“ Von Vorteil sei es, wenn das Bedürfnis nach Zeit für sich nicht zu weit auseinanderklaffe – wenn also beide ein ähnlich hohes Maß an Freiräumen benötigen. „Hat man als HSP das Gefühl, zu wenig Freiraum zu bekommen, kann das wiederum nur über Kommunikation ausverhandelt werden“, sagt Julia. „Wir kommen nicht darum herum, unsere Bedürfnisse klar zu kommunizieren.“

Ein guter Umgang mit Konflikten

Kommt es in einer Beziehung zum Konflikt, ist das immer eine Herausforderung – für hochsensible Personen ganz besonders. „Ich denke, für viele HSP geht es darum, unangenehme Gefühle und Situationen aushalten zu lernen und nicht sofort gegenzusteuern und zurückzurudern und beispielsweise nachzugeben, nur um die Harmonie umgehend wiederherzustellen“, so die Expertin. Es sei völlig normal, dass man in einer Beziehung mal anderer Meinung oder jemand verletzt sei. „Ein Konflikt bedeutet jedoch nicht gleich Trennung oder heftiger Streit. Ein Konflikt bedeutet auch nicht mal per se etwas Negatives. Über Konflikte können beispielsweise auch Lösungen ausverhandelt werden.“

Und es sei auch okay, mal nicht zu einer gemeinsamen Meinung zu kommen. „Wenn es zu keiner Einigung kommen sollte, dann halte ich es gerne mit den Worten von Vera Birkenbihl: „Einigkeit zur Zweinigkeit“. Das bedeutet: Wir sind uns einig, dass wir uns in diesem Punkt uneinig sind. Und damit lassen wir es dann gut sein.“

Worauf Hochsensible in Beziehungen Wert legen

Natürlich sind alle Menschen unterschiedlich und auch Hochsensible unterscheiden sich in ihren Bedürfnissen – trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten. „Was ich in meinen Coachings immer wieder höre bzw. Werte, die viele HSP teilen, sind unter anderem: sich auf den Anderen verlassen zu können, Aufrichtigkeit und Authentizität, Vertrauen, Verständnis sowie Sicherheit und Geborgenheit“, sagt Julia. „Vermutlich sind das generell Grundwerte, die auch für viele andere Menschen in Beziehungen essenziell sind.

Für hochsensible Menschenfällt es allerdings besonders schnell auf und schwer ins Gewicht, wenn jemand unehrlich oder nicht authentisch ist. „Daher ist es für sie besonders wichtig, dass die Worte und Taten des Anderen mit dem Gefühl, das bei ihnen ankommt, kongruent sind, also übereinstimmen“, so Julia. Auch der Freiraum, über den wir bereits gesprochen haben, ist ein wichtiger Wert in der Beziehung. „Hochsensible Personen können oft nicht 24/7 von Menschen umgeben sein, sondern brauchen zwischendurch Rückzugs- und Ruhemöglichkeiten.“

Wie Hochsensibilität die Beziehung bereichert

Hochsensibilität kann eine Superpower sein – gerade in Beziehungen. „Ich denke, dass hochsensible Menschen durch ihre Fähigkeit, Emotionen intensiver zu spüren, auch den/die nicht hochsensible(n) Partner:in mehr in Verbindung mit ihren/seinen Emotionen bringen können“, sagt Julia. „Auch ihre Tiefgründigkeit und Reflexionsfähigkeit sind in Beziehungen sehr geschätzte Eigenschaften, die im wahrsten Sinne des Wortes neue Welten erschließen können.“

Außerdem verfügten Hochsensible über eine hohe Empathiefähigkeit und feine Antennen. Das mache sie oft zu den Personen, die in Beziehungen im entscheidenden Moment die richtigen Worte finden oder die passenden Impulse geben. „Hochsensibilität kann somit ein Schlüssel zu einer noch tieferen, von gegenseitigem Verständnis getragenen Beziehung sein, die auf die Bedürfnisse des Einzelnen Rücksicht nimmt, ohne sich selbst zu verlieren, auf Augenhöhe gelebt und auch von beiden Seiten so empfunden wird“, so Julia. Und das klingt doch sehr vielversprechend und kann allen Menschen Mut machen, ihre Hochsensibilität auch in der Beziehung auszuleben und sie selbstbewusst einzubringen.

Hochsensibel in einer Beziehung? Wie bereichernd!
Julia ist Coach für Hochsensible und lebt in Wien. Sie ist diplomierte Lebens- und Sozialberaterin mit Schwerpunkt auf Hochsensibilität und hat sich auch in der Diplomarbeit dem Thema Hochsensibilität gewidmet. Julia hilft dabei, Hochsensibilität als Stärke zu leben und People Pleasing zu beenden. Alle Informationen zu Julia findest du auf ihrer Website, viele Impulse, Einblicke und Inspirationen bekommst du auch über ihren Instagram-Account authentisch.ich.