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Erleben und erinnern

Was mich die Wehmut lehrt
Text: Mirjam Kunith
29.11.2022
Geöffnetes Fenster mit Dekoration
Es war Anfang September, aber für mich hätte es genauso gut Anfang Januar sein können - kurz nach Weihnachten und Neujahr. Eine Zeit mit ein bisschen Familienkater und ein bisschen Sich-neu- Orientieren. Ein bisschen Innehalten und Verarbeiten.

Seit ich mich erinnern kann, denke ich nicht in Kalenderjahren, sondern in Schuljahren. Meine Einteilung des Jahres ist nicht rational, sie ist ein Gefühl. Während sich am kalendarischen Jahreswechsel meiner Empfindung nach nicht viel mehr als eine Zahl ändert, ändert sich am Wechsel vom Hochsommer zum Spätsommer für mich mit meiner synästhetischen Wahrnehmung so viel, dass es mich regelrecht überrollt. Es beginnt jedes Jahr am 21. Juni, der Sommersonnenwende, wenn ich weiß, dass die Tage wieder kürzer werden. Es wird verstärkt durch den Beginn der Sommerferien, wenn die Vorfreude der Tatsache Platz macht. Und es ist schließlich nicht mehr zu ignorieren, wenn im August morgens die Scheiben beschlagen und Gras und Asphalt feucht sind. Immer dann wird meine Brust für einen winzigen Moment eng und mein Herz wirft sich lieber schon einmal ein leichtes Jäckchen über.

Dieses Gefühl, welches an meine Tür klopft, ist eine alte Bekannte von mir: die Wehmut. Sie bittet mitten im Hochsommer um Einlass und überreicht mir ein Päckchen, in welchem sich „sanfte Trauer, (und) leiser Schmerz, um etwas Vergangenes, Verlorenes“ [www.dwds.de/ wb/ wehmut, 01.09.2022] befindet. Ich kenne den Inhalt schon, ohne es aufzumachen. Die Wehmut ist übrigens nicht zu verwechseln mit der Melancholie, der Schwermut, einem Gefühl, das sich auf die Gegenwart bezieht. Für dieses Präsent bin ich als zur Perfektion veranlagte Zweifach-Mama zu beschäftigt.

Das Gefühlsbad.

Es wird also früher dunkel und mein Auge meldet meinem Ohr, dass es Zeit wird, die Platte zu wechseln: statt Meeresrauschen und Sommerhit des Jahres gibt es jetzt den klingelnden Wecker und hupende Autos. Autsch! Die kühler werdenden Abende spürt meine Haut und signalisiert meinem Auge: weniger Farbe und Kontur, mehr Sepia bitte. Der Anblick diverser Werbung für ABC-Schützen-Bedarf und Cosy-ins-Office-Looks erinnert meinen Geschmackssinn daran, dass er so langsam von kühler Wassermelone und Eis auf warme Suppe und Tee umstellen muss.

Warum ist das (bei mir) so? Warum schwimme ich zu dieser Jahreszeit kurz, aber intensiv, in diesem Gefühlsbad, das akustisch die gesamte Tonleiter und farbtechnisch den ganzen Kreis umfasst? Vom Geschmacks- und Geruchssinn gar nicht erst anzufangen.

Ich lasse die erste Jahreshälfte 2022 geistig Revue passieren. Im neuen Jahr konkretisierten sich Pläne, die im alten bereits grob skizziert wurden. Im März feierten wir die Taufe unseres Sohnes. Mit Freude stürzte ich mich in die Auswahl von Taufspruch und Menü. Im April verbrachte ich einen Junggesellinnenabschied der anderen Art: ab ging es ins Museum, zum Italiener und ins Atelier. Im Mai reisten wir in unserer einmonatigen Elternzeit nach Italien. Wir genossen und besichtigten. Im Juli folgte unsere kirchliche Trauung. Wow! Anfang August verbrachten wir zwei Wochen an der Ostsee, wo wir den ersten Geburtstag unseres Sohnes feierten und unsere Tochter Fahrrad fahren lernte.

Während ich überlege, was dieses Jahr so passiert ist (Puh, so einiges!), wird mein Herz weit und mein Verstand klar: der gemeinsame Nenner all meiner Erlebnisse, großer und kleiner, schöner und herausfordernder, sind die Menschen, die mich umgeben und die ich treffen durfte: Familie, Freunde und Bekannte. Das Miteinander und der Austausch mit ihnen, helfende Hände, Umarmungen und Genuss. Im Bewusstsein, dass der Moment einzigartig und vergänglich ist, bin ich einfach nur dankbar und mein Herz möchte „zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!“ [Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Reclam: Stuttgart 2000, S.48.]

In der Hoffnung meinen Zustand als Anti-Faust noch etwas besser zu verstehen, werfe ich einen Blick in die Goethe’sche Tragödie. Die entscheidenden Sätze finde ich in der Szene Studierzimmer II. Nach gescheiterten Entgrenzungsversuchen, im Vorhaben seinem Erkenntnisstreben nachzukommen, geht Faust eine Wette mit Mephisto ein. Er wettet, dass Mephisto ihm keinen Moment bescheren könne, in welchem er mit dem Leben zufrieden ist. In seiner verzweifelten Ratlosigkeit bietet Faust Mephisto, sollte er eines Tages innehalten wollen, seine Dienste im Jenseits an: „Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen; So sei es gleich um mich getan (...) Kannst du mich mit Genuss betriegen; Das sei für mich der letzte Tag! (...) Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, Ins Rollen der Begebenheit! (...) Nur rastlos betätigt sich der Mann.“ [Ebd. S.48 ff.]

Ja, hier finde ich mein Stichwort. Und nein, dass, was ich erlebe ist kein Rauschen. Weder ein Hintergrundrauschen, bei dem das Ganze der Bedeutungslosigkeit anheim fällt, noch ein monotones Rauschen, bei dem die Wichtigkeit der Einzelteile verblasst. Ich erkenne: trotz aller Baustellen, die es auch in meinem Leben gibt, bin ich glücklich und zufrieden. Meine Erlebnisse und Momente mit den Menschen, die mich umgeben, sind wunderschön, einzigartig und vergänglich und dementsprechend möchte ich sie wertschätzen. Ich möchte nicht von einem zum nächsten hasten, sondern innehalten, aufsaugen und verarbeiten. Ich möchte Zeit haben, um der ersten Jahreshälfte 2022, allen kleinen und großen Erlebnissen und vor allem denjenigen, die daran beteiligt waren, Danke! zu sagen. Das Ganze ist ein Teil von mir geworden, ein Teil meines Lebensweges, meines Herzens und meiner Erinnerung, die ich behalten werde. Erst jetzt kann ich mich von meiner alten Bekannten verabschieden und sagen: Bis nächstes Jahr, liebe Wehmut, ich weiß schon: same, same, but different.