• G
  • e
  • n
  • k
  • i

Entscheid-ungen treffen als Hochsensible

Was dir helfen kann
Text: Julia Felicitas Allmann
Fotos: Moira Rutschmann
16.03.2023
Moira Rutschmann
Einfach mal machen, spontan „Ja“ sagen, selbstbewusst zu der eigenen Wahl stehen: Für hochsensible Personen kann das schwer sein. Für sie ist es oft eine besondere Challenge, eine Entscheidung zu treffen und später nicht lange darüber zu grübeln. Was kann dabei helfen? Isabella Kiening begleitet als Coach und systemische Beraterin hochsensible Frauen – und teilt hier ihre Erfahrungen und Tipps mit dir.

Warum sich hochsensible Personen schwer entscheiden können

Was vorab wichtig ist: Jeder Mensch ist unterschiedlich, jede hochsensible Person ist anders, jede Entscheidungssituation individuell. Deshalb kann es natürlich nie die pauschale Lösung für jede:n geben – doch das folgende Wissen gibt dir als hochsensible Person Anhaltspunkte, die Entscheidungen erleichtern. Isabella stellt zu Beginn klar: „Hochsensibilität ist für mich immer eine Superkraft – auch bei der Entscheidungsfindung.“ Also gehe die folgenden Tipps zuversichtlich und mit einer inneren Superheldinnen-Einstellungen an, dann ist der erste Schritt bereits getan.

Woran liegt es denn, dass es hochsensiblen Menschen oft schwerfällt, eine Wahl zu treffen? „Sie verarbeiten Informationen, Gedanken und Gefühle deutlich tiefer, intensiver, gründlicher und vernetzter als normal-sensible Menschen“, erklärt Isabella. „Sie denken und überdenken sehr tiefgründig, sind oft in der Lage, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und tauchen gern ganz tief ein, um etwas begreifen und verstehen zu können.“ Das führt natürlich dazu, dass alle Optionen sorgfältig durchdacht und abgewogen werden wollen – und das verlängert den Entscheidungsprozess.

Welche Gründe halten Hochsensible ab, eine Entscheidung zu treffen?

Die Entscheidungsfindung dauert nicht nur länger, sie fällt teilweise auch richtig schwer. Isabella nennt dafür weitere Gründe: „Der erste Faktor ist Anpassung“, sagt sie. „Meiner Erfahrung nach neigen die meisten Hochsensiblen zunächst dazu, sich eher anzupassen als aufzufallen. Somit werden Entscheidungen oft lieber abgegeben als selbst getroffen.“ Das Bedürfnis, es anderen Menschen möglichst recht zu machen, spielt für viele Hochsensible eine große Rolle. Die eigenen Wünsche werden hintenangestellt.

Hinzu kommt, dass die eigenen Bedürfnisse oft kaum gespürt werden, trotz oder gerade wegen der eigenen Hochsensibilität. Isabella zufolge lernen Hochsensible meistens schon als Kinder, dass mit ihren Empfindungen, Gedanken und Gefühlen etwas nicht stimmt. Weil sie auf kein Verständnis für ihre oft überwältigenden Gefühle stoßen, ordnen sie diese als „falsch“ ein und verlieren oft den Zugang zu ihnen. Das macht es natürlich später schwer, eine Entscheidung zu treffen, die den eigenen Bedürfnissen entspricht.

Und: Viele Hochsensible haben einen Hang zum Perfektionismus. „Wenn Hochsensible Entscheidungen treffen, dann wollen sie in den meisten Fällen das Risiko einer Fehleinschätzung, eines „Scheiterns“ oder einer Enttäuschung – sich selbst und anderen gegenüber – möglichst geringhalten“, sagt Isabella. „Sie haben oft einen überhöhten Anspruch an sich selbst, ihre Leistungen und Fähigkeiten.“ Das kann zu Perfektionismus führen, der einen schützenden Effekt haben soll – er soll davor bewahren, Fehler zu machen. „Denn wenn ich keine Fehler mache, mache ich mich auch nicht angreifbar für Kritik, Konflikte und damit einhergehende herausfordernde, möglicherweise auch überwältigende Gefühle.“ Doch wer immer nur perfekte Entscheidungen treffen möchte, schiebt diese immer weiter heraus.

Auch fehlender Mut kann in dieser Situation eine Rolle spielen. „Manches Mal lässt sich beobachten, dass Erwachsene gar nicht gelernt haben, mutig zu sein und etwas zu wagen, weil sie, wie bereits beschrieben, Entscheidungen aufgrund von Überangepasstheit meist abgegeben haben.“ Hier müssen alle Hochsensiblen erst einmal lernen, auf sich zu vertrauen und positive Erfahrungen sammeln, die sie darin bestärken, selbst Entscheidungen zu treffen.

Ein weiterer Faktor ist die Kommunikation der eigenen Bedürfnisse und Grenzen: „Ich höre sehr oft, dass sich Hochsensible von Familie, Freunden, Arbeitskolleg:innen unverstanden fühlen“, erzählt Isabella. Das führt dazu, dass Selbstsicherheit und Selbstvertrauen nicht besonders gefestigt sind – und das wären wichtige Punkte beim Treffen klarer Entscheidungen.

Sechs Tipps, wie Hochsensible Entscheidungen leichter treffen

Die Gründe haben wir jetzt betrachtet, natürlich hat Isabella Tools und Tipps, wie Hochsensible es trotzdem – oder erst recht – schaffen, Entscheidungen zu treffen und zu ihnen zu stehen.

  • Zugang zur inneren Welt herstellen: Bei Entscheidungen spielt nicht nur der Verstand eine Rolle, sondern auch das sogenannte Bauchgefühl, also die Empfindungen in der inneren Welt. Wer das Gefühl hat, hier keinen guten Zugang zu haben, kann dies trainieren. „Wir dürfen lernen, uns genauso empathisch, feinfühlig und sensibel zu begegnen, wie wir das anderen gegenüber tun“, sagt Isabella. „Ein täglicher Self-Check-in kann bei der Kontaktaufnahme mit sich selbst sehr hilfreich sein. Wie geht es mir heute? Wie fühle ich mich heute? Fühle ich mich warm und entspannt oder eher kalt und angepasst? Wo fühle ich Verspannung und/oder Entspannung in meinem Körper?“ Solche und andere Fragen können dir helfen, den eigenen Gefühlen achtsamer zu begegnen. Das hilft im Alltag, aber natürlich auch bei Entscheidungen. Spürst du ein gutes Gefühl, triffst du die richtige Wahl.
  • Mit Alltagsentscheidungen üben: Isabella rät, den Alltag zum Trainingsgelände für Entscheidungen zu machen. „Zum einen, um uns mal vor Augen zu führen, wie viele Entscheidungen wir tagtäglich schon ganz selbstverständlich treffen können“, sagt sie. „Das hilft uns, Selbstbewusstsein zu schaffen und Vertrauen in diese Fähigkeit aufzubauen.“ Außerdem kannst du ausprobieren, wie du dich im Entscheidungsprozess fühlst – und zwar anhand von wirklich alltäglichen Fragen: Was möchtest du heute Abend essen? Ist dir heute nach Ruhe oder Action? Was willst du am Wochenende unternehmen?
  • Lerne, was du brauchst: „Wenn wir immer wieder üben, uns selbst bei Entscheidungen mindestens genauso zu berücksichtigen wie die anderen Beteiligten, wird uns das mit jedem Mal leichter fallen“, sagt Isabella. „Wichtig dabei ist natürlich, dass uns bereits bewusst ist, dass wir möglicherweise bisher immer unsere Entscheidungen nach anderen ausgerichtet haben. Denn erst wenn das der Fall ist, können wir unsere alten Muster erkennen und anfangen, diese zu verändern.“
  • Frage dich, ob es dir gut tut: „Das ist eine meiner Lieblingsfragen“, verrät Isabella. „Tut mir das gut? Nehmen wir diese Frage in unseren Entscheidungsprozess gewohnheitsmäßig mit auf, wird uns auch das helfen, leichter Entscheidungen zu fällen.“
  • Schreibe eine Liste: Was spricht für die Entscheidung und was dagegen? „Wenn wir Dinge (händisch!) aufschreiben, haben wir zum einen die Möglichkeit, sie aus dem Kopf und auf das Papier zu bringen, womit es für unser Gehirn als erledigt verbucht wird, zum anderen haben wir die Möglichkeit, unsere Gedanken nochmal zu sortieren“, sagt Isabella. Beides verschafft dir eine Erleichterung, außerdem kommst du ins Handeln und erlangst ein Gefühl von Sicherheit und Selbstbestimmung. Du kannst auch Best-Case- und Worst-Case-Szenarien aufschreiben. Gerade das Worst-Case-Szenario kann dir helfen, wieder einen realistischeren Blick auf die Dinge zu bekommen – was ist es wirklich, das schlimmstenfalls passieren kann?
  • Tausche dich aus: Sprich mit anderen Menschen, lass die Gedanken einmal aus dir heraus. „Das Aussprechen hat den wunderbaren Effekt, dass wir dadurch auch unsere eigenen Gedanken sortieren“, erklärt Isabella. „Oftmals brauchen wir gar keinen Rat oder eine Meinung, es reicht schon, dass wir unsere Gedanken dazu laut aussprechen, sie selbst hören und zudem auch so ausdrücken möchten, dass das Gegenüber versteht, um was es geht.“

Warum Hochsensible später oft grübeln

Auch wenn du die Entscheidung mithilfe dieser Tipps getroffen hast: Es kann passieren, dass du dir noch lange die Frage stellst, ob die Entscheidung auch richtig war. „Bekommen Hochsensible beispielsweise nach einer Entscheidung Gegenwind im Sinne von anderen Meinungen oder spüren, dass andere mit ihrer Entscheidung nicht zufrieden sind oder konform gehen, dann kommt es je nach „Status“ des Selbstvertrauens sehr häufig vor, dass die eigene Entscheidung revidiert oder noch tagelang überdacht wird“, sagt Isabella. Je fragiler das Selbstvertrauen, desto anfälliger sind Hochsensible für solche Einflüsse von außen. „Sind Hochsensible aber schon sehr sicher mit sich, hilft ihnen ihr vertieftes Fühlen und Denke, sowie alle anderen wunderbaren Eigenschaften von Hochsensibilität auch sehr, sich ihrer Entscheidung wirklich sicher zu sein und diese auch mit Argumenten nach Außen kommunizieren zu können“, so Isabella.

So kannst du von klaren Entscheidungen profitieren

Wenn du als hochsensible Person lernst, Entscheidungen zu treffen und später zu ihnen zu stehen, dann bringt dich das im ganzen Leben weiter. „Wenn Hochsensible lernen, besser mit Entscheidungen umzugehen, dann lernen Sie sich in der Regel auf diesem Weg auch besser kennen“, sagt Isabella. „Sie lernen für sich einzustehen, selbstbestimmt zu handeln, sich selbst gegenüber bewusster – also selbst-bewusster – zu werden und reflektierter mit den jeweiligen Situationen umzugehen.“

Wenn du immer wieder die Erfahrung machst, dass du in der Lage bist, Entscheidungen zu treffen, deinen Mut unter Beweis stellst und deine eigenen Wünsche in diesem Prozess deutlich kommunizierst, macht dich das am Ende stärker. „Und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Ressourcen und Möglichkeiten kann weiter wachsen und sich entfalten“, sagt Isabella.

Entscheidungen treffen als Hochsensible: Was dir helfen kann
Isabella Kiening ist selbst hochsensibel – und als sie das verstanden hat, konnte sie eine echte Verbindung zu sich selbst aufbauen. Nach einer Weiterbildung zur systemischen Beraterin und Therapeutin begleitet sie nun feinfühlige, sensible oder hochsensible Frauen dabei, stark und entspannt durchs Leben zu gehen. Weitere Informationen über Isabella findest du auf ihrer Website und ihrem Instagram-Account.