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Das Fremde und das Eigene

Wie die Illusion in Bridget Jones mir gelegentlich hilft mich selbst zu finden
Text: Mirjam Kunith
18.08.2022
Mirjam Kunith
Als studierte Germanistin/Romanistin ist Mirjam als Zweifach-Mama - so oft es der Alltag eben zulässt - auf der Suche nach des Pudels Kern. Als ewige Zweiflerin und strukturierte Analytikerin bedient sie sich der Sprache, um ihren (Selbst-) Beobachtungen Ausdruck zu verleihen. 

Leichte Kost im Babybett

Neulich abends gestand ich meinem Mann, dass ich offenbar dringend Hilfe brauche. Mehrere Tage hintereinander schon klebte ich in jeder freien Minute (gleichbedeutend mit: Kinder schlafen) vor dem iPad. Wozu? Um Bridget Jones zu schauen. Alle drei Teile hintereinander. Zum wievielten Male? Gähn, nicht mitgezählt. ‚Binge watching‘, wahlweise auch ‚binge viewing‘, das sogenannte Komaglotzen, ergriff mich, seit sechs Monaten Zweifach-Mama, mit voller Wucht. Immer wieder wurde ich vom Video- on- demand-Angebot abends im Dunkeln neben meinem Söhnchen liegend ins Visier genommen. Ich (er-)legte mich freiwillig. Nach einem langen und vollen Tag mit zwei Kindern, einem Gehirn wie ein Sieb und einer Aufmerksamkeitsspanne von „oh ein Vögelchen!“, sollte es leichte Kost sein.

Achtung, ich beschwere mich nicht, meinte aber doch, mir „was fürs Herz“ gönnen zu müssen. Und so fing ich an mit Bridget zu lachen, zu weinen und ja – zu schwärmen. Mr. Alle-Welt-rettende-und-dabei-nie-die-Contenance-verlierende Mark Darcy war so ganz das Gegenteil meines täglichen Lebensinhaltes: Windeln wechseln, stillen, aufräumen und sauber machen, einkaufen, Spielnachmittage ausmachen, Korrespondenz und Finanzen im Auge behalten. 

Uff, wer würde beim Anblick von Herrn Sisyphos nicht gerne mal zu Mr. Darcy schielen?

Zu meiner Überraschung reagierte mein Mann auf mein Geständnis gelassen. Mit mir sei alles in Ordnung. Ich wisse doch, dass andere (Mamis) sich abends dafür ein, zwei Gläschen genehmigten. Oder die ein oder andere Zigarette. Wahlweise auch einen vollen Warenkorb auf einem Shopping-Portal. Stimmt. Bin ich also nicht die Einzige, die ein Türchen zu einer anderen Welt braucht? Ein Ventil, um den Alltagsdampf im Geiste abzulassen? Was gibt uns dieser Zeitvertreib, was wir im Alltag zu Hause oder bei der Arbeit nicht haben? Eine Erklärung für die Anziehung dieses Vergnügens besteht vielleicht in der Illusion.

Konfrontiert mit dem Daily Business flüchten wir uns gerne mal in eine andere Wirklichkeit. In der Ästhetik wird Illusion laut Duden verstanden als „Täuschung durch die Wirkung des Kunstwerks, das Darstellung als Wirklichkeit erleben lässt“. Bridget Jones, dieser Film mit seiner ganz eigenen Weise der Wahrnehmung von Welt und durch ebendiesen ‚Rahmen‘ als Kunstwerk definiert, war also eine Einladung an mich zu imaginieren, eine Aufforderung an meinen Geist in eine „Welt einzutreten [...] und diese wie eine Wirklichkeit (mit-)zu erleben“ (Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. J.B. Metzler, Stuttgart 20084, S. 310). Mich zwischen den Polen von Immersion und Distanz bewegend, gesellte ich mich als Beobachterin zu Bridget in ihre chaotisch-gemütliche, bunte Wohnung am Borough Market.

Ich hörte mir ihre Tagebucheinträge an und nickte gedanklich mitfühlend bei einigen Punkten und schmunzelte über andere. Ich begleitete sie geistig zu den ausgelassenen, feucht-fröhlichen Treffen mit ihren Freunden in die dröhnende Spinning Class oder zum Musikfestival samt Glamping. Ich ging mit ihr über die Albert Bridge zur Arbeit und begegnete ihren beruflichen Fettnäpfchen.

Live life to the fullest!

Ja, in der Realität in Jogginghosen auf der Couch, lebte ich die Möglichkeit, jedoch in vollem Bewusstsein, dass diese fiktional ist: „in den [...] Alternativmodellen des Lebens und der Identität werden vielfältige Möglichkeiten der Begegnung mit dem „Anderen“ angeboten, das gerade erst durch die pragmatischen Alltagszwängen enthobene Fiktionalität des Ästhetischen im Wechselspiel von Identifikation und reflexiver Distanz der [...] Erfahrung zugänglich wird“ (Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. J.B. Metzler, Stuttgart 20084, S. 168).

Kurz gefragt: War Bridget Jones für mich ein Hilfsmittel, um mich und meine neue Situation als Zweifachmama zu verarbeiten? Durch meine Sympathie für die Figur fiel es mir leicht, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Durch das Wissen um ihre Fiktionalität hatte ich genügend Distanz für diese Auseinandersetzung mit dem Anderen... und in der Folge der direkten Gegenüberstellung von Bridgets und meiner Welt auch das Werkzeug für die
Auseinandersetzung mit mir selbst: „Im [...] Spannungsfeld zwischen Eigenem und Anderem, zwischen Vertrautem und Fremdem wird [...] ein Prozess des Selbst- und Fremdverstehens, der die Erfahrung von Alterität zum [...] Bestimmungsmoment eigener Identitätsfindung macht“ (Ebd. S. 168) bewirkt.

Und nun? Ausgestattet mit etwas mehr Erkenntnis über mein eigenes Verhalten, wollte ich eines in jedem Fall vermeiden: Bridget Jones als wissenschaftliche Blaupause, erhobenen Zeigefinger oder zu hoch gelegte Messlatte zu sehen. Nein, das Vergnügen am Dauerglotzen lasse ich mir nicht nehmen. Meinen beiden schlafenden Kindern gebe ich zufrieden ein Küsschen und übe mich in Geduld – bis auch bei mir die Möglichkeit wieder zur Wirklichkeit wird. Ich freue mich schon darauf und Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude.