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Sober Curiosity

Wie es sich anfühlt, keinen Alkohol mehr zu trinken
Text: Julia Felicitas Allmann
Fotos: Julia Felicitas Allmann
07.12.2021
Julia mit Bierflasche im Urlaub
Früher gehörten Longdrinks, Wein und Cocktails immer dazu, dann hatte ich irgendwann keine Lust mehr darauf. Nach der ersten Schwangerschaft habe ich einfach nicht wieder angefangen, Alkohol zu trinken – und fühle mich so viel besser damit. Ein Trend, der sich unter dem Namen „Sober Curios“ weltweit verbreitet. Wie es sich anfühlt, die Einzige ohne Gin Tonic im Glas zu sein und warum sober das neue sexy sein kann: meine persönlichen Erfahrungen.

Zwei oder drei Weinschorlen am Abend, dann ein Moscow Mule, später ein paar Kurze – weil es gerade so lustig ist. Am nächsten Tag dann der obligatorische Wochenend-Kater, aber lustig war es, oder? Klar war es lustig – aber irgendwann hat es mich genervt, dass Alkohol zur Freitag- oder Samstagabend-Beschäftigung einfach dazugehörte. Genau wie der Kater am nächsten Tag und der leichte Filmriss, der sich bei mir immer schnell einstellte. Und das alles nicht mit 18 Jahren, sondern auch noch mit Anfang 30.

Deshalb habe ich immer mal wieder versucht, eine Zeitlang nichts zu trinken – oder nach der ersten Weinschorle Schluss zu machen. Meistens vergeblich, denn wie sagt man hier in Köln: „Drink doch ene met, stell dich nit so an“. Und das wollte ich zumindest früher auf keinen Fall: Mich „so anstellen“, langweilig sein, nicht dazugehören. Wenn ich mitgetrunken habe, fühlte ich mich lustiger, ich lachte lauter, ich gehörte irgendwie stärker dazu.

„Du trinkst nicht? Und was ist mit mir?“

Die meisten Menschen beziehen es auch schnell auf sich, wenn man alkoholfrei unterwegs ist. „Wie, du trinkst heute nichts? Und was ist mit mir? Dann bist du sicher die Aufseherin, die meine Gläser zählt. Und die mich schräg anguckt, wenn ich beginne, schräg zu gucken.“ Es ist ähnlich wie bei Menschen, die sagen, dass sie Vegetarier oder sogar Veganer sind. Meistens können die Gesprächspartner es nicht einfach dabei belassen, sondern sie fangen an, ihren eigenen Fleischkonsum zu rechtfertigen oder herunterzuspielen.

Vor wenigen Monaten sagte mir das erste Mal jemand: „Du trinkst gar keinen Alkohol? Spannend.“ Es war das einzige Mal, das ich so etwas hörte, und ich fühlte mich ausnahmsweise mal nicht langweilig und abgestempelt, sondern für meine Einstellung wertgeschätzt. 

Irgendwie kann ich die pauschale Skepsis gegenüber bewussten Nicht-Trinkern sogar verstehen. Ich hatte mal eine Bekannte, die fast empört wirkte, wenn man ihr ein Glas Sekt anbot. „Ich trinke keinen Alkohol“ stellte sie so resolut klar, als hätte man ihr gerade angeboten, lebendige Mäuse zu essen – oder etwas ähnlich Absurdes zu tun. Einmal habe ich sie gefragt, ob das eigentlich einen Grund habe. Ihre Antwort: „Ja, das hat es.“ Tonfall und Gesichtsausdruck machten dabei sehr deutlich, dass ich ihre Beweggründe keinesfalls erfahren würde. In der gleichen Schublade wie diese Person wollte ich mich keinesfalls selbst wiederfinden.

Jetzt ist „Sober Curiosity“ angesagt

Das ist ein paar Jahre her und vielleicht würden heute mehr Menschen mit Verständnis reagieren, wenn diese Person ihren eigenen Sekt mitbringt oder nur eine Apfelschorle trinkt. Denn der Trend zum alkoholfreien Spaß verbreitet sich weltweit immer stärker, wenn auch natürlich noch in Nischenbereichen. Ein Begriff für diesen bewusst alkoholfreien Lifestyle: „Sober Curiosity“ – es geht also um die Neugier aufs Nüchternsein.

Es sind hippe junge Menschen, die sich diesem Trend anschließen. Die aus gesundheitlichen Gründen auf Alkohol verzichten, die es vielleicht auch einfach nervt, immer wieder verkatert zu sein. Die Britin Ruby Warrington hat ein Buch darüber geschrieben, das den motivierenden Titel trägt: „Sober Curious: The Blissful Sleep, Greater Focus, Limitless Presence, and Deep Connection Awaiting Us All on the Other Side of Alcohol.” Auch ihr Podcast widmet sich dem Thema, hier geht es ums Trinken, ums Nicht-Trinken, um Abhängigkeiten und den Spaß auf alkoholfreien Events.

Denn die gibt es längst, vor allem in angesagten Großstädten: In New York und auch Berlin eröffnen schicke Bars, in denen es keinen Alkohol gibt, dafür fancy Drinks, bei denen man sich mit klarem Kopf unterhalten kann. Unter Hashtags wie #soberlife oder #soberissexy kann sich die ganze Welt anschauen, wie viel Spaß es macht, einfach mal nichts zu trinken.

Auch viele Menschen aus der gesundheitsorientierten und spirituellen Szene schließen sich der Bewegung an – so richtig passt es schließlich auch nicht zusammen, wenn man jeden Morgen meditiert, um einen möglichst klaren Fokus zu halten und jedes Wochenende mit vernebeltem Kopf auf dem Sofa sitzt. Drogen sind auf Sober Events übrigens nicht ausgeschlossen, es gibt einige Menschen, bei denen sich die Nüchternheit ausschließlich auf Alkohol bezieht, bewusstseinserweiternde Substanzen gehören für sie in eine andere Kategorie.

Völlig nüchtern auf einer Fetisch-Party

Wie es sich anfühlen kann, eine Partynacht völlig nüchtern zu erleben, habe ich vor einigen Jahren selbst erlebt. Damals trank ich noch Alkohol, hatte aber gerade eine Art „Gesundleben-Meditieren-Körper-in-Balance-bringen-Coaching“ begonnen und wollte es an diesem Wochenende durchziehen, nüchtern zu bleiben – obwohl ich mit Freunden auf einer Party verabredet war, für die ich normalerweise mehrere Longdrinks gebraucht hätte. Es war ein Event in einem Kölner Elektroclub, in dem der Großteil der Menschen Fetisch-Outfits trug und offensichtlich an diesem Abend nicht nur Alkohol konsumiert hatte…

Es war ein verrückter Abend, ich habe zu Musik getanzt, die ich nicht mal mag, habe mir all diese exzentrischen Menschen angeschaut, später noch bis halb 6 mit Freunden bei uns in der Wohnung gesessen und den Rest der Nacht genossen. Und das Beste: Ich konnte mich am nächsten Morgen noch an jeden einzelnen Moment erinnern. Ich war trotz des Schlafmangels fit und aufgekratzt, fand es toll, meinen Alkoholverzicht an so einem Abend durchgezogen zu haben.

Klar, lebendig und selbstbestimmt

Trotzdem habe ich es damals nicht geschafft, weiterhin selbstbewusst #soberissexy zu vertreten. Erst als ich zum ersten Mal schwanger wurde, habe ich mit dem Alkohol aufgehört. Da war es für mich und alle anderen Menschen selbstverständlich, es war keine Ausrede, sondern unbedingt erforderlich. Und ich habe es als eine solche Erleichterung empfunden. Ich habe – wenn mir nicht gerade schlecht war – weiterhin mit Freunden gefeiert, habe lange Nächte mit Apfelschorle oder Traubensecco verbracht, fühlte mich dabei lebendig, klar und vor allem selbstbestimmt. Und insgeheim hatte ich manchmal den Gedanken: Schade, wenn das wieder vorbei ist.

Nach Schwangerschaft und Stillzeit habe ich dann einfach nicht wieder angefangen. Mir kam damals – neben dem Mama-Dasein – der erste Corona-Lockdown zugute, durch den wir alle viel weniger in Bars und leider auch bei Freunden unterwegs waren. So zog sich die alkoholfreie Phase immer länger und irgendwann war für mich selbstverständlich: Ich trinke keinen Alkohol, zumindest momentan nicht.

Start-ups für alkoholfreien Spaß

Ich habe mich durch verschiedene alkoholfreie Getränke getestet, habe festgestellt, dass es ziemlich schlechten Null-Prozent-Sekt gibt, genau wie ganz guten Wein ohne Alkohol. Ich habe gelernt, dass ich nicht betrunken sein muss, um dazuzugehören. Dass meine Freunde offenbar auch gerne Zeit mit mir verbringen, wenn ich keinen Gin Tonic im Glas habe und dass ich mittlerweile auch selbstbewusst genug bin, um klar zu sagen, dass ich nichts trinke. Inzwischen fühlt sich auch niemand mehr davon persönlich angegriffen (glaube ich zumindest). Und das Wichtigste: Für mich fühlt es sich gut an.

Vermutlich trägt der „Sober Curios“-Trend dazu bei, genau wie die immer neuen Getränke, die von Start-ups auf den Markt kommen. Ob Wein von „Kolonne Null“, eine Gin-Variante von „Siegfried“ oder „AperNo Spritz“ und „Mosow Null“ von „Jean&Len“: Wer einen solchen Drink in der Hand hat, muss sich nicht verstecken. Diese Unternehmen machen das Nüchternsein schick und vermitteln das Gefühl, erst recht dazuzugehören – zu einer Community, die vielleicht schon einen Schritt weiter ist. Zumindest monatsweise schließen sich dieser Gesellschaft im „Sober October“ und „Dry January“ sogar noch mehr Menschen an. Vielleicht ein erster Test, um dann zu entscheiden, wohin die persönliche Reise geht.

Kommt der Alkohol irgendwann zurück?

Ob ich dauerhaft bei meinem alkoholfreien Lifestyle bleibe? Ich weiß es noch nicht. Inzwischen sind es mehr als drei Jahre, die sich für mich persönlich gut anfühlen. Erst seit dem Beginn meiner zweiten Schwangerschaft hatte ich zum ersten Mal das Bedürfnis nach einem Glas Wein (und frage mich, warum das ausgerechnet jetzt passiert). In den nächsten Monaten spielt Alkohol für mich wieder natürlicherweise keine Rolle – und ich kann mir aktuell noch nicht vorstellen, mit zwei kleinen Kindern zuhause das Bedürfnis nach einem Kater zu haben.

Aber wer weiß, wie es ist, wenn sie etwas größer sind? Vielleicht greife ich dann mal wieder zu einem Longdrink – aber ganz bewusst und selbstbestimmt, nicht, um dazuzugehören und mich „nicht so anzustellen“. Vielleicht stehe ich dann aber auch ganz happy mit meinem Moscow Null auf einer Party und finde weiterhin, dass sober ganz schön sexy ist.